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«Freihandel um jeden Preis ist im Interesse von niemandem»

Die Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft, Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, äussert sich zum Spielraum bei einem allfälligen Freihandelsabkommen mit den USA. Ausserdem erläutert sie, weshalb kleine Schritte in der Zusammenarbeit mit China so wichtig sind.
Staatssekretärin Ineichen-Fleisch: «Es bringt einem Land nichts, wenn es die eigene Landwirtschaft kaputtmacht.» (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)
Frau Ineichen-Fleisch, das Staatssekretariat für Wirtschaft wird Anfang Juli 20 Jahre alt. Werden Sie feiern?

Ja, natürlich. Wir feiern diesen Geburtstag am Seco-Fest im August. Dazu haben wir auch die ehemaligen Bundesräte des Departments und die Staatssekretäre eingeladen.

Das Seco ist das Fusionsprodukt zweier Bundesämter – jenes für Industrie, Gewerbe und Arbeit, kurz Biga, und jenes für Aussenwirtschaft, des Bawi. Führt das nicht zu einem Silo-Denken zwischen den Direktionen?

Teilweise gibt es das sicher noch, und in der Sitzung der Geschäftsleitung kommen die Gesichtspunkte der verschiedenen Direktionen auch gut zum Ausdruck. Uns ist es aber gelungen, in diesen zwanzig Jahren die beiden Ämter zu einem Kompetenzzentrum für die Wirtschaftspolitik zusammenzuschweissen.

Worin bestehen die verschiedenen Gesichtspunkte?

Wir haben Direktionen mit ganz unterschiedlichen Aufgaben. Das ehemalige Biga – oder die heutige Direktion für Arbeit – ist in vielen Belangen ein Vollzugsamt. In der Direktion für Aussenwirtschaft geht es primär um Verhandlungen mit unseren ausländischen Partnern. Die Direktion für Wirtschaftspolitik wiederum halte ich für einen der besten Thinktanks der Schweiz. In der Standortförderung schliesslich geht es um die Verbesserung des Standortes Schweiz bezüglich KMU, Tourismus und Regionalpolitik. Es geht aber auch um Exportförderung, weshalb in dieser Direktion die Binnenwirtschaft und die Aussenwirtschaft ganz besonders stark verflochten sind.

Aktuell haben Sie in der Geschäftsleitung nur Männer. Woran liegt das?

Es liegt unter anderem daran, dass wir einen wachsenden Anteil an Frauen im mittleren Kader haben, die vor dem Sprung in die Geschäftsleitung noch etwas Erfahrung sammeln möchten. Natürlich ist es schade, dass wir nicht mehr Frauen in der Geschäftsleitung haben. Ich spreche bei jeder Neubesetzung auch mit Frauen über eine mögliche Kandidatur, sie haben mir allerdings jeweils plausibel dargelegt, warum sie noch nicht so weit seien. Ich bin aber zuversichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir mehr Frauen in der Geschäftsleitung haben werden.

Sie haben im Seco ein Doppelmandat inne: Sie sind Staatssekretärin und gleichzeitig Direktorin für Aussenwirtschaft. Wie bringen Sie diese beiden Tätigkeiten unter einen Hut?

Es ist gut, dass ich diese zwei Aufgaben habe, denn die Leitung der Direktion für Aussenwirtschaft gibt mir die Gelegenheit, auch operationell tätig zu sein. Zum Beispiel leite ich die Verhandlungen mit Indien und bin auch selber in die Gespräche mit den USA über ein mögliches Freihandelsabkommen involviert.

Der weltweite Handel schrumpft. Sind die Handelsstreitigkeiten der Grund dafür?

Ja. Die Spannungen im internationalen Handel haben zu Unsicherheiten geführt, welche sich nun auch in den Statistiken auswirken.

Machen Ihnen die Handelsstreitigkeiten zwischen den USA und einigen ihrer Handelspartner Sorgen?

Ja. Am Anfang hatte man den Eindruck, es sei vor allem Rhetorik. Im Moment ist es aber mehr. Von den seitens der USA eingeführten Zusatzzöllen auf gewissen Stahl- und Aluminiumprodukten sind unsere Exportunternehmen unmittelbar betroffen. Diese Zölle haben zudem andere Länder dazu bewogen, ihrerseits restriktive Massnahmen aufgrund der befürchteten Handelsumlenkung zu ergreifen. So hat die EU – unser mit Abstand wichtigster Absatzmarkt für Stahlerzeugnisse – Schutzmassnahmen erlassen, um ihren Markt vor übermässigen Importen aus Drittländern zu schützen. Diese indirekten Auswirkungen sind gravierend.

Sie führten diverse Gespräche mit der EU-Kommission betreffend Sonderbehandlung der Schweiz. Die Schweiz fand trotzdem kein Gehör in Brüssel, und dies trotz der Existenz eines Freihandelsabkommens. Wie erklären Sie sich das?

Gemäss EU-Kommission fehlen die rechtlichen Grundlagen für die Gewährung einer Ausnahme für die Schweiz. Die Kommission hat wiederholt betont, dass die Schutzmassnahmen WTO-rechtskonform seien und auf die Importe aus allen Drittstaaten angewendet werden. Die Ausnahme von Norwegen, Island und Liechtenstein begründet die EU mit den wirtschaftlichen Verflechtungen im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums. Das Freihandelsabkommen Schweiz – EU lässt Schutzmassnahmen hingegen zu.

Möglicherweise hätte die Schweiz eine Ausnahme bei den Stahlzöllen erhalten, wenn sie das Rahmenabkommen mit der EU unterzeichnen würde. Ist das EU-Rahmenabkommen überhaupt noch zu retten?

Der Abschluss eines institutionellen Abkommens würde die Rechtssicherheit über den bestehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt und die sektorielle Teilnahme am EU-Binnenmarkt erhöhen. Es würde auch die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU festigen. Dies könnte bei zukünftigen Diskussionen um eine Ausnahme von Schutzmassnahmen zu einer pragmatischeren Position der EU beitragen. Darüber hinaus würde ein institutionelles Abkommen den Ausbau des Marktzugangs ermöglichen. Bei einer allfälligen Modernisierung des Freihandelsabkommens könnten dann bei gegenseitigem Interesse auch Ausnahmen von Schutzmassnahmen vorgesehen werden. Sie sehen: Aus volkswirtschaftlicher Sicht spricht weiterhin viel für den Abschluss eines institutionellen Abkommens.

Die Schweiz intensiviert die Beziehungen zu China. Sie waren diesen Frühling während sieben Tagen beim Staatsbesuch in China dabei. Welche Rolle hatten Sie?

Ich habe zusammen mit der Staatssekretärin für internationale Finanzfragen, Daniela Stoffel, das Memorandum of Understanding zur geplanten neuen Seidenstrasse unterschrieben, dies in Anwesenheit von Bundespräsident Ueli Maurer und des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping.

Was steht in diesem Vertrag?

Es geht namentlich darum, Schweizer Unternehmen einen Austausch über Belt-and-Road-Projekte zu ermöglichen. Es gibt schon einige Schweizer Unternehmen, die Produkte an chinesische Unternehmen für Belt-and-Road-Projekte liefern. Zudem sieht das Memorandum of Understanding die Bildung einer Plattform vor, die es China und anderen Ländern ermöglichen soll, sich über die Gestaltung und Umsetzung von Projekten auszutauschen. Es ist eine Art Technical Assistance, wie sie auch der Internationale Währungsfonds kennt. Bei aller Kritik bin ich überzeugt, dass wir so Einfluss auf eine bessere Transparenz der Verfahren und auf die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards nehmen können.

Diese Absichtserklärung ist kein Staatsvertrag. Das heisst, die Schweiz ist grundsätzlich nicht daran gebunden?

Es ist kein Staatsvertrag, sondern ein Memorandum of Understanding über die Zusammenarbeit in Drittmärkten der Belt-and-Road-Initiative. Beide Seiten haben als Nächstes den Auftrag, eine Arbeitsgruppe zu bilden und zu diskutieren, wie wir uns organisieren wollen. Wir haben zahlreiche Memorandums of Understanding mit China, weil China dieses Instrument gerne benutzt. Wir haben denn auch mit keinem anderen Land so viele Absichtserklärungen wie mit China. Mit China haben wir auch eine strategische Partnerschaft. Die Belt-and-Road-Absichtserklärung ist angehängt an diese strategische Partnerschaft.

In der Presse war zu lesen, dass man zuvor noch ein Papier zu den Menschenrechten habe unterzeichnen wollen. Stimmt das?

Die Idee ist, dass man noch eine Absichtserklärung hat, die umfassender ist und nicht nur wirtschaftliche Aspekte umfasst. Wegen des Belt-and-Road-Gipfels wurde nun einmal das spezifischere Memorandum of Understanding unterzeichnet.

Welchen Einfluss hat das Memorandum of Understanding auf das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China?

Eine direkte Auswirkung hat es nicht. Aber die Chinesen denken strategisch und langfristig. Jedes Gespräch mit den Chinesen beginnt mit den Worten: «1950 haben Sie uns als eines der ersten Länder anerkannt.» Dann kam die Anerkennung des Status als Marktwirtschaft bei Schutzmassnahmen, danach das Freihandelsabkommen, der Renminbi-Hub und die strategische Partnerschaft. Und das erste ausländische Industrieunternehmen, das in China ein Joint Venture einging, war ein schweizerisches Unternehmen, nämlich die Schindler-Gruppe im Jahr 1980. Die Absichtserklärung ist nun ein weiterer Schritt in dieser Abfolge.

War somit das Freihandelsabkommen am Treffen kein Thema?

Doch, es war ein Thema, denn wir wollen sicherstellen, dass es gut umgesetzt und auch weiterentwickelt wird. Präsident Xi Jinping hat denn auch die Offenheit Chinas für weitere Verhandlungen wiederholt.

Ein Wunsch ist etwa, dass der Finanzmarkt besser zugänglich wird.

Ja. Bundespräsident Ueli Maurer war neben einer Businessdelegation auch mit einer Finanzdelegation in China. Das Echo war gut. Ein Thema war auch die weitere Öffnung Chinas gegenüber ausländischen Unternehmen. Denn es sollen nicht nur chinesische Unternehmen Schweizer Unternehmen aufkaufen können, sondern auch umgekehrt. Es gibt langsam Fortschritte. China weiss, dass das nötig ist.

Gibt es konkrete Zugeständnisse?

Diesbezüglich gibt es in China neu das Law on Foreign Investment. Präsident Xi Jinping hat Bundespräsident Ueli Maurer versichert, dass es im Rahmen dieses Gesetzes immer weniger Ausnahmen geben wird. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Aber es geht vorwärts. Und China muss und will sich in zahlreichen Sektoren weiterentwickeln, damit auch der Wohlstand in der Bevölkerung wächst. China hat auch eingesehen, dass es wichtig ist, das geistige Eigentum zu schützen. Das tun sie – jedenfalls verpflichten sie sich dazu, was schon ein wichtiger Schritt ist. Die Umsetzung ist indessen schwierig, denn es ist ein riesiges Land. Und trotzdem spürt man, dass China das geistige Eigentum schützen will – natürlich auch zum Schutz der eigenen Innovationen.

Zur anderen grossen Weltmacht: den USA. Sie besuchten zusammen mit Bundespräsident Ueli Maurer US-Präsident Donald Trump im Weissen Haus. Wo stehen wir hier mit den Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen?

Wir sind immer noch in Explorationsgesprächen. Das bedeutet: Wir schauen, ob wir ein gemeinsames Verständnis entwickeln können, was der Inhalt eines solchen Abkommens sein sollte, bevor wir die Verhandlungen lancieren. So wollen wir verhindern, dass die Verhandlungen scheitern, bevor sie überhaupt anfangen, wie das im Jahr 2006 der Fall war.

Und gibt es ein solch gemeinsames Verständnis?

Das kann man noch nicht sagen, dafür sind die Explorationsgespräche noch zu wenig fortgeschritten. Wenn die USA zum Beispiel unbedingt Freihandel für alle Agrarprodukte wollen, dann finden wir keine Einigung. Anders sieht es aus, wenn die USA bereit sind, einen punktuellen besseren Marktzugang für bestimmte Produkte zu erhalten. Für amerikanische Exporteure ist es ja nicht zielführend, Massenprodukte in die Schweiz zu exportieren. Aber es lohnt sich, hochwertige und sehr teure Güter zu exportieren. Hier können wir punktuell einen Marktzutritt gewähren. Wenn sie mit diesem Ansatz einverstanden sind, haben wir in diesem Bereich eine gemeinsame Basis.

Was ist der Stand? Wann wird es zu Verhandlungen kommen?

Es ist ganz klar ein Interesse da. Aber auch von unserer Seite ist das Interesse an einem Abkommen gross. Denn die Schweizer Exporteure bezahlen mehr Zölle für ihre Exporte in die USA als die US-Exporteure für ihre Exporte in die Schweiz.

Die Öffnung der Agrarmärkte ist keine Vorbedingung der Amerikaner?

Ich gehe davon aus, dass sie den Agrarmarkt auch abdecken wollen. Aber die Frage ist, wie. Aus unserer Sicht haben wir heute mehr Gestaltungsraum als noch 2006. Aber was sie damals von uns verlangt haben, können wir ihnen auch heute nicht geben. Wichtig dürfte auch sein, was bei unseren Verhandlungen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten rauskommt. Wenn es uns gelingt, mit diesen Staaten ein Abkommen abzuschliessen, könnte das Interesse der USA steigen. Denn einzelne Produkte, die wir dann aus dem Mercosur importieren, könnten die Importe aus anderen Ländern, unter anderem auch den USA, konkurrenzieren. Und die USA würden sehen, welche Art Marktzugang wir für solche Produkte gewähren könnten.

Wo sehen Sie in der Landwirtschaft mehr Gestaltungsspielraum? Momentan scheint eine weitere Marktöffnung in der Schweiz politisch unmöglich zu sein.

Eine vorsichtige, gut mit der Agrarbranche abgesprochene Öffnung sollte meines Erachtens möglich sein.

Was ist aus Ihrer Sicht den Schweizer Bauern wichtig?

Die Hauptsorge der Bauern ist die Auswirkung auf die Preise. Wenn die Importe eine starke Senkung der Preise zur Folge haben, sind die in der Schweiz produzierten Agrarprodukte nicht mehr konkurrenzfähig, und es macht keinen Sinn mehr, in der Schweiz zu produzieren. Das will niemand. Es bringt einem Land auch nichts, wenn es die eigene Landwirtschaft kaputtmacht. Natürlich muss die Landwirtschaft sich öffnen und konkurrenzfähig sein – viele Betriebe fühlen sich als Unternehmer und wollen das auch. Aber Freihandel um jeden Preis ist im Interesse von niemandem. Ganz «frei» ist der Handel ja ohnehin nicht. Denn es gibt technische Handelshemmnisse wie Standards, Qualitätsvorschriften und so weiter. Und das zu Recht. Denn wir wollen ja gute und sichere Produkte in unseren Läden.

Zitiervorschlag: Susanne Blank, Nicole Tesar (2019). «Freihandel um jeden Preis ist im Interesse von niemandem». Die Volkswirtschaft, 17. Juni.

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

Die Staatssekretärin ist seit April 2011 Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Das Seco zählt 720 Mitarbeitende. Zudem ist sie seit acht Jahren auch Leiterin der Direktion für Aussenwirtschaft. Nach einem Rechtsstudium an der Universität Bern mit dem Abschluss als Fürsprecherin und einem MBA am INSEAD im französischen Fontainebleau arbeitete die heute 58-Jährige als Junior Consultant beim Beratungsunternehmen McKinsey in Zürich. Von dort wechselte sie ins ehemalige Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi), das Vorgängeramt des Seco. Ab 1999 leitete sie dort das Ressort Welthandelsorganisation (WTO). Von 2007 bis 2011 war sie Botschafterin und Delegierte des Bundesrates für Handelsverträge, Chefunterhändlerin der Schweiz bei der WTO sowie Mitglied der Geschäftsleitung des Seco.