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«In Interlaken haben wir keinen Overtourism»

Das Jungfraujoch ist ein Marketingerfolg. Dass jährlich über 700’000 Asiaten auf ihrer Europareise halt auf dem Joch machen, ist massgeblich das Verdienst von Jungfraubahnen-Chef Urs Kessler. Das «Top of Europe» steht dabei in Konkurrenz zu Städten wie Paris und Venedig. Ein Gespräch über Massentourismus.

«In Interlaken haben wir keinen Overtourism»

«Wer nach Paris fährt, soll auch zu uns kommen»: Jungfraubahnen-Chef Urs Kessler. (Bild: Marlen von Weissenfluh / Die Volkswirtschaft)
Herr Kessler, wie oft fahren Sie aufs Jungfraujoch im Jahr?

Etwa 30 Mal. Ich begleite meist Touristengruppen aus Asien. Und einmal jährlich schaue ich die Infrastruktur genauer an.

Wie empfinden Sie die Platzverhältnisse bei über einer Million Besuchern pro Jahr?

Ich habe auf dem Jungfraujoch immer genügend Platz. Ich kenne ja jede Ecke. Wegen der vielen Attraktionen verteilen sich die Gäste gut.

Über 70 Prozent der Besucher sind Asiaten. Sie haben mit sehr viel Engagement den asiatischen Markt aufgebaut. Man könnte sagen: Sie sind schuld am Massentourismus in der Schweiz.

Das sind die Früchte einer langen Aufbauarbeit. Ende der Neunzigerjahre bauten wir als erstes Schweizer Tourismusunternehmen in China, Japan, Indien, Korea und Südostasien ein Vertreternetz auf. Unsere Leute vor Ort sind tagtäglich nur für die Jungfraubahnen unterwegs. Das kommt auch dem Tourismusland Schweiz zugute. Wenn wir einen neuen Markt erschliessen, machen wir zuerst Werbung für Europa, dann für die Schweiz und erst an dritter Stelle für das eigene Produkt. Denn wir sind uns bewusst: Ohne dass ein Gast in der Schweiz übernachtet, kann er das Jungfraujoch nicht besuchen.

Viele Asiaten besuchen das Jungfraujoch als Etappe auf einer Europareise. Wie locken Sie diese nach Interlaken?

Zu fast jeder Europareise gehört ein Aufenthalt in Paris mit dem Eiffelturm. Unser Motto lautet daher: Kein Paris-Besuch ohne das Jungfraujoch. Wer nach Paris fährt, soll auch zu uns kommen. Aber logischerweise ist der asiatische Markt hart umkämpft.

Mit der V-Bahn wird man noch schneller auf dem Berg sein. Kennen die Jungfraubahnen und Interlaken das Phänomen «Overtourism», also den Konflikt zwischen den Einheimischen und den Gästen?

In Städten wie Barcelona und Venedig ist Massentourismus ein Problem. Der Grund sind die Kreuzfahrtschiffe: Innerhalb kürzester Zeit strömen Massen von Touristen in die Städte. In Interlaken jedoch haben wir keinen Overtourism.

Sie sind im Vorstand der Tourismus-Organisation Interlaken, die aktiv den Kontakt zur Bevölkerung sucht. Also brauchte es dieses Engagement gar nicht?

In der Region Interlaken sind sich die meisten bewusst: Der Tourismus sichert Arbeitsplätze. Gleichzeitig ist es wichtig, die Bevölkerung für kulturelle Unterschiede zu sensibilisieren. Wenn indische Touristen an den Bahnschalter gehen und sagen: «I want a better price», sorgt dies für Unverständnis. Deshalb bringen wir in Workshops der lokalen Bevölkerung die kulturellen Eigenheiten näher. Das haben wir aber schon immer gemacht. Overtourism ist für mich ein Modewort – zumindest, was die Schweiz betrifft.

Was tun die Jungfraubahnen, um den Gästen trotz Grossandrang ein positives Erlebnis zu bieten?

Qualität ist für uns wichtiger als kurzfristiges Wachstum. Vor fünf Jahren limitierten wir die Zahl der Jungfraujoch-Besucher deshalb auf 5250 Personen pro Tag. Durch diese Lenkungsmassnahme gewinnt die Marke «Jungfrau – Top of Europe» an Prestige und Exklusivität. Mittlerweile garantieren wir jedem Gast einen Sitzplatz in der Jungfraubahn.

Die Grenze scheint flexibel. Vor zehn Jahren war sie noch bei 5000 Gästen. Wie geht das weiter?

Wir wollen nicht kurzfristiges Wachstum, sondern Vorteile langfristig mit einer global starken Marke. Daher halten wir an unserer Limitierung fest.

Wie oft im Jahr ziehen Sie die Notbremse bei den Besucherzahlen?

Insgesamt sind wir etwa an 30 Tagen im Jahr ausverkauft. Dank der Sitzplatzreservation auf den Zügen verteilen sich unsere Gäste besser über den Tag.

Welche Monate sind davon betroffen?

Unsere Hochsaison dauert von Mitte Juni bis Mitte August. Wir wollen jedoch auch in der Nebensaison ausverkauft sein. Deshalb ist Indien ein wichtiger Markt, weil dort die Hauptreisezeit in die Monate April, Mai und Juni fällt.

Wie erreichen Sie dieses Ziel?

Eine Schlüsselrolle spielt für Inder das Essen: Ende der Neunzigerjahre reisten die indischen Gäste mit einem Bus und einem Koch nach Lauterbrunnen. Gegessen wurde dann direkt im Zug, welcher dann sofort in die Reinigung musste. Im Jahr 2000 eröffneten wir auf dem Jungfraujoch das Restaurant Bollywood mit zwei indischen Köchen. Heute essen dort während der Hochsaison bis zu 1800 Gäste pro Tag. Die koreanischen Individualtouristen wiederum erhalten bei uns seit 1998 gratis eine Nudelsuppe, wenn sie über unsere Kanäle buchen – das hat unseren Bekanntheitsgrad in Südkorea enorm erhöht. Bis heute macht der koreanische Suppenhersteller mit dem Jungfraujoch Werbung.

Wie lenken Sie die Besucherströme?

Die einzig wirksame Lenkungsmassnahme ist der Preis. Eine Fahrt auf das Jungfraujoch ist deshalb im Sommer teurer als in der Nebensaison. Das muss man dann natürlich auch kommunizieren. Mit schönen Worten und Informationstafeln allein lenken Sie hingegen keinen Touristen.

Was kann eine Stadt wie Luzern tun, die mit Massentourismus kämpft?

Die Massen beschränken sich in Luzern auf den Schwanenplatz und die Kappelbrücke. Diese Konzentration löst die negativen Kommentare aus. Dort braucht es deshalb Lenkungsmassnahmen wie etwa Gebühren für Reisecars. Ein weiterer Grund ist die dortige Preispolitik: Mit dem Swiss Travel Pass kann man gratis auf die Rigi, aufs Stanserhorn oder kostenlos Schiff fahren. Das ist eine gefährliche Entwicklung: Mit dem Pauschalfahrausweis sinken die Erträge, gleichzeitig kommen mehr Touristen – wie bei einer Billigairline. Das ist nicht nachhaltig, denn der öffentliche Verkehr hat auch einen Wert. Die Schweiz wird im globalen Reisemarkt als Billigdestination nie eine Chance haben. Es kann nicht sein, dass der ausländische Tourist für einen Spottpreis den öffentlichen Verkehr benutzen darf. Da ist auch die Politik gefordert.

 

Es ist ein Balanceakt zwischen den Extremen Disneyland und Natur

 

Was kann die Politik tun?

Der Schweizer ÖV-Benutzer darf nicht gegenüber dem Touristen benachteiligt sein.

Landschaftsschützer Raimund Rodewald kritisiert, der Bergtourismus sei zum Erlebnistourismus verkommen. Es gehe nur noch darum, möglichst viele Leute auf den Berg zu bringen.

Da hat er teilweise recht: Wir müssen unsere Angebote vermehrt der Natur anpassen. Früher haben die Leute auf der Sphinx-Terrasse 20 Minuten lang die Berg- und Gletscherwelt bestaunt. Der heutige Tourist hat das Auge für diese Naturschönheiten nicht mehr. Wir wollen die Gäste deshalb mit konkreten Angeboten direkt auf den Gletscher führen. Unser Trumpf ist das Unesco-Weltkulturerbe, zu welchem wir seit 2001 gehören.

Kritisiert wird doch, der Besuch verkomme zu einem Shoppingerlebnis. Chinesische Touristen fahren auf das Jungfraujoch und kaufen dort eine Uhr.

Es ist ein Balanceakt zwischen den Extremen Disneyland und Natur. Mit dem Shoppingangeboten entsprechen wir einem Bedürfnis der Gruppenreisenden. Zudem wollen wir eben nicht noch mehr Gäste befördern, sondern wir möchten den Durchschnittsertrag auf 120 Franken pro Person steigern. Das erreichen wir mit den Shops. Asiaten sind sehr markenaffin. Für Markenuhren sind sie auch bereit, mehr Geld auszugeben. Gerade chinesische Touristen haben immer mehr Zeit zur Verfügung: In China findet derzeit eine starke Verlagerung von Gruppenreisen hin zu Einzelreisen statt. Für uns ist das eine Chance, denn Individualtouristen besuchen nicht mehr sieben Länder in zwölf Tagen, sondern beschränken sich auf zwei. Zum Beispiel die Schweiz und Italien.

Hat der Trend zum Individualtourismus mit steigenden Einkommen zu tun?

Ja, das ist sicher ein Grund. Ein anderer ist: Dank dem Internet können sich die Reisenden die Routen selber zusammenstellen. Zudem können immer mehr Chinesen Englisch und bewegen sich in der Welt selbstständiger.

Verändert die Klimadebatte das Reiseverhalten?

Heute ist noch nichts spürbar. Die Sensibilität steigt jedoch, und langsam wird dieser Prozess das Reiseverhalten beeinflussen. Der Billigflugverkehr ist ein globales Problem – dafür braucht es auch eine globale Lösung.

Was machen die Jungfraubahnen im Kampf gegen den Klimawandel?

Wir haben ein eigenes Wasserkraftwerk und gewinnen Energie aus den Zügen, die vom Jungfraujoch hinunterfahren. Den Gletscherschwund verzögern wir mit Schnee, den wir mit Pistenfahrzeugen auf den Gletscher bringen. Zudem planen wir, die Leute mit Infotafeln für den Klimawandel zu sensibilisieren. Wir arbeiten an einem Angebot, bei dem das Naturerlebnis im Zentrum steht. Mehr verrate ich aber noch nicht.

Steigt das Bewusstsein der Gäste für das Thema?

Das ist ganz nach Markt verschieden. Grundsätzlich gilt: Es gibt nicht den Asiaten. Während in Japan das Umweltschutzbewusstsein stark ausgeprägt ist, hat es in China noch einen relativ kleinen Stellenwert.

 

Der Werbeeffekt der geposteten Fotos ist enorm

 

Vermarkten Sie nun den schmelzenden Gletscher?

Schnee und Eis haben wir immer vermarktet.

Sie haben Tennisprofi Roger Federer und Basketballstar Tony Parker aufs Jungfraujoch geholt. Sind Sie auf solche PR-Aktionen angewiesen?

Mit diesen Events laden wir die Marke «Jungfrau – Top of Europe» emotional auf. Erlebnisse wie der Tennismatch von Roger Federer oder der Kick-off der Euro 2008 hinterlassen einen bleibenden und nachhaltigen Eindruck.

Wie wichtig sind Schnappschüsse auf den sozialen Netzwerken?

Der Werbeeffekt der geposteten Fotos ist enorm. Mit über 1,5 Millionen Likes auf Facebook sind wir die Nummer 1 im Schweizer Tourismus. Nun wollen wir auch auf Instagram Marktführer werden. Zu diesem Zweck haben wir auf dem Jungfraujoch Fotopoints mit Gratis-WLAN eingerichtet. So können die Gäste ihre Fotos unmittelbar teilen. Ein anderes Erfolgsbeispiel: Vor vier Jahren besuchte die chinesische Sängerin G.E.M. das Jungfraujoch. Auf den chinesischen Social-Media-Kanälen erzielten die Videos rund 250 Millionen Views.

In der Jungfraubahn, die die 9,3 Kilometer lange Zahnradbahnstrecke aufs Joch absolviert, haben Sie aber kein WLAN?

Nein, noch nicht. Der neue Eiger-Express wird Ende 2020 eröffnet und wird über WLAN verfügen. Die Gäste können dann ihre Bilder noch auf der Fahrt in die Welt verbreiten.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2019). «In Interlaken haben wir keinen Overtourism». Die Volkswirtschaft, 18. Oktober.

Urs Kessler

Der 57-jährige «Bähnler», wie sich Urs Kessler gerne bezeichnet, ist seit 2008 Konzernchef der Jungfraubahn Holding. Drei Jahre lang war er im Doppelmandat CEO und Marketingchef. Begonnen hat seine Karriere beim Bahnunternehmen 1987, als er von der BLS kommend als Leiter Verkaufsförderung engagiert wurde. Der gelernte Betriebsdisponent wuchs in Gsteigwiler bei Interlaken auf. Die Destination Jungfraujoch trägt zusammen mit der Restauration auf dem Joch ein Drittel zum Gruppenumsatz bei. Die Zahnradbahn verkehrt seit 1912 zwischen der Talstation Kleine Scheidegg und dem Jungfraujoch. Zu den Jungfraubahnen gehören weitere Bergbahnen wie die Firstbahn, die Harderbahn, die Berner-Oberland-Bahn und die Schynige-Platte-Bahn.