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«Wir sehen uns als eine Art Reisebüro»

In den RAV im Kanton Bern hat ein Kulturwandel stattgefunden: Die Beratung richte sich heute stärker am Individuum aus, sagt Marc Gilgen, Leiter des Berner Amts für Arbeitslosenversicherung. Kollektivmassnahmen für ältere Arbeitnehmende seien deshalb nicht zielführend.

«Wir sehen uns als eine Art Reisebüro»

«Nicht jede Person über 50 ist schwierig vermittelbar»: Marc Gilgen, Leiter des Berner Amts für Arbeitslosenversicherung, in seinem Büro. (Bild: Jonah Baumann / Die Volkswirtschaft)

Herr Gilgen, Sie sind seit fünfzehn Jahren im Vollzug des Arbeitslosenversicherungsgesetzes tätig. Wie beurteilen Sie heute die Entwicklung der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren?


Ich denke, die RAV-Organisation hat deutlich an Professionalität gewonnen. Stellensuchende wurden früher eher verwaltet als beraten. Heute geht es vielmehr um Wirkung in der Beratung. Die wirkungsorientierte Leistungsvereinbarung des Bundes mit den Kantonen hat viel zum Austausch von bewährten Vorgehensweisen unter den Kantonen beigetragen.

Im Jahr 2013 lancierten Sie das Projekt «Bern Top!», welches die Beratung im Kanton Bern individualisierte. Was heisst das?


«Bern Top!» war nicht nur ein neues Beratungs-, sondern ein umfassendes Strategie- und Kulturentwicklungsprojekt. Wir wollten uns konsequenter auf die individuelle Situation der Stellensuchenden ausrichten und haben gleichzeitig das Portfolio der arbeitsmarktlichen Massnahmen stark bereinigt. Gegenstand des Projektes war zudem eine neue Arbeitgeber-orientierte Kultur bei der Stellenvermittlung. Heute sehen wir uns als eine Art Reisebüro, welches die Stellensuchenden auf dem Weg in eine neue berufliche Zukunft begleitet.

Auch die Innenausstattung der RAV-Zentren erinnert an ein Reisebüro. Ist das Zufall?


Nein. Wir haben uns bewusst für ein modernes Raumkonzept entschieden. Seit 2017 haben wir fünf neue RAV-Zentren bezogen oder bestehende komplett umgebaut. Weitere sind in Planung. Wir sehen uns als eine Kombination aus Sozialversicherung, also dem Rechtsvollzug, öffentlicher Arbeitsvermittlung, die sich am Markt orientiert, und Reisebüro, weil die Beratung individuell ausgestaltet ist. Sichtbar machen wir dies mit einem völlig neuen Raumkonzept. Eine stellensuchende Person soll sich dank einem offenen, aber professionellen Ambiente im RAV willkommen und professionell beraten fühlen. Die RAV-Beraterin oder der RAV-Berater kann für jedes Gespräch aus drei verschiedenen Tisch-und-Sitz-Kompositionen ein passendes Beratungsumfeld im Open-Space-Raum wählen. Selbstverständlich sind auf Wunsch weiterhin Beratungsgespräche in einem geschlossenen Raum möglich, was aber selten verlangt wird. Nach persönlichem Geschmack ausgestattete Einzelbüros von Personalberatenden wirken auf die Kunden nicht professionell. Sie wird es in unseren RAV-Zentren in Zukunft nicht mehr geben.

Eine Neuerung von «Bern Top!» war das Ampelsystem. Wie funktioniert dieses?


Das Ampelsystem war ein Teilaspekt des Projektes «Bern Top!». Für unsere Personalberatenden bedeutet es eine bewusstere Kundensegmentierung in drei Anspruchsgruppen. Je nach Ausgangslage und Beratungsbedarf teilen wir im Kanton Bern die Stellensuchenden in Brücken-, Markt- und Integrationskunden ein. Diese bewusste Segmentierung ist eine wichtige Weichenstellung für die Zusammenarbeit zwischen den Stellensuchenden und den Personalberatenden. Sie dient als Basis für eine bedarfsgerechte und zielführende Wiedereingliederungsstrategie.

Arbeitslosen lediglich eine Tagesstruktur zu geben, macht wenig Sinn

Gibt es auch Massnahmen, die nicht so gut funktioniert haben?


Ja. Wir haben festgestellt, dass nicht alle arbeitsmarktlichen Massnahmen zielführend sind. Von reinen Beschäftigungsprogrammen haben wir uns beispielsweise verabschiedet. Diese verlängern unseres Erachtens die Arbeitslosigkeit. Es macht wenig Sinn, Arbeitslosen mit einer Beschäftigung lediglich eine Tagesstruktur zu geben. Vielmehr bevorzugen wir Konzepte, die auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind. Das sind beispielsweise Bewerbungscoachings oder Praktika.

Was ist die Hauptschwierigkeit bei der Vermittlung der Stellensuchenden?


In vielen Branchen herrscht ein Fachkräftemangel – gleichzeitig weisen die meisten Arbeitslosen nicht die gesuchten Profile auf. Sprich: Es besteht oft ein Mismatch von Angebot und Nachfrage im Arbeitsmarkt. Zunehmend Schwierigkeiten haben wir auch mit älteren oder gering qualifizierten Stellensuchenden ohne formalen Berufsabschluss.

Welche Lehrstellen empfehlen Sie Jugendlichen, die einen Job auf sicher haben möchten?


Im Kanton Bern besteht die Befürchtung, dass in den nächsten Jahren insbesondere in der Industrie die Fachkräfte fehlen werden. Eine Lehre in dieser Branche oder in einem handwerklichen Bereich lohnt sich also.

Gerade technische Branchen sind eine klassische Männerdomäne.


Es ist klar: Wir müssen mehr junge Frauen für Mint-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, Anm. d. Red.) oder auch handwerkliche Berufe begeistern. Ein positives Beispiel ist der Malerberuf: Dort liegt der Frauenanteil bei den Lernenden inzwischen bei fast 50 Prozent und nimmt weiter zu.

Eine Lehre in der Industrie lohnt sich

Wer mit 58 Jahren oder später arbeitslos wird, hat kaum Aussicht auf eine neue Stelle. Was tut der Kanton Bern für ältere Arbeitnehmende?


Unsere Beratungsstrategie orientiert sich an der individuellen Ausgangslage der Stellensuchenden. Kollektivmassnahmen für eine gewisse Altersgruppe sind deshalb nicht zielführend. Nicht jede Person über 50 ist schwierig vermittelbar. Ich will die Situation aber nicht beschönigen: Im Einzelfall ist die Jobsuche für ältere Arbeitnehmende schwierig. Die Arbeitslosigkeit dauert zudem im Durchschnitt deutlich länger als bei den übrigen Altersgruppen. Wichtig ist eine rasche Aktivierung und Unterstützung zu Beginn der Arbeitslosigkeit. Nach sieben bis neun Monaten wird die Stellensuche zunehmend kompliziert.

Was sind die Gründe für die längere Arbeitslosigkeit von älteren Personen?


Ein Nachteil gegenüber jüngeren Bewerbern sind zum Beispiel die hohen Pensionskassenbeiträge, die eine Wiederanstellung erschweren. Zudem stellen ältere Arbeitnehmende manchmal zu hohe Ansprüche bei den Anstellungsbedingungen. Man sollte aber nicht verallgemeinern. Es fehlt oft auch am grundsätzlichen Willen der HR-Abteilungen, berufserfahrene Stellensuchende zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn es jüngere Bewerber gibt.

Ältere Arbeitslose werden auch häufiger langzeitarbeitslos.


Ja, das ist so. Je älter, desto grösser das Risiko von Langzeitarbeitslosigkeit. Stellensuchende, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, haben es generell schwer, Anschluss im Arbeitsmarkt zu finden.

Der Bundesrat will die Beratungsangebote der RAV für ältere Arbeitslose verbessern. Steht das nicht im Widerspruch zu Ihrem Ansatz, das Individuum ins Zentrum zu stellen?


Nein. Das Impulsprogramm ergänzt unseren Ansatz. Dabei handelt es sich um Massnahmen zur Förderung des inländischen Fachkräftepotenzials. Zwei Massnahmen betreffen die RAV-Organisationen. So will der Bundesrat die Konkurrenzfähigkeit von älteren Arbeitskräften verbessern: Einerseits soll für schwer vermittelbare Stellensuchende der Zugang zum Arbeitsmarkt vereinfacht werden. Andererseits will der Bundesrat in der Schweiz lebende Ausländer besser in den Arbeitsmarkt integrieren.

Dürfen auch Ausgesteuerte in eine RAV-Beratung kommen?


Ja, unsere Dienstleistungen stehen allen vermittelbaren und arbeitsmarktfähigen Ausgesteuerten kostenlos zur Verfügung. Dabei arbeiten wir auch eng mit den Sozialdiensten zusammen.

Die RAV bieten keine Weiterbildungskurse für Arbeitslose an. Warum nicht?


Die RAV haben grundsätzlich keinen Bildungsauftrag. Ihr primärer Auftrag ist die rasche und dauerhafte Wiedereingliederung von vermittlungsfähigen Personen in den ersten Arbeitsmarkt. In diesem Zusammenhang sind aber arbeitsmarktliche Massnahmen – das kann zum Beispiel auch ein individueller Sprachkurs sein – durchaus zulässig.

Das Staatssekretariat für Wirtschaft lässt den Kantonen grosse Freiheiten bei der Ausgestaltung der Arbeitsvermittlung.


Die Vollzugshoheit liegt bei den Kantonen. Wir haben viel Spielraum bei der Ausgestaltung unserer Organisation. Das Staatssekretariat für Wirtschaft steuert über eine wirkungsorientierte Leistungsvereinbarung und über eine entsprechende Wirkungsmessung. Das Amt entschädigt unsere Vollzugskosten aufgrund der Anzahl Stellensuchender und legt jährlich neu das Kostendach fest.

Bei der jährlichen Wirkungsmessung des Seco hat sich der Kanton Bern unter Ihrer Leitung hochgearbeitet. Sind Sie zufrieden?


Die Investitionen in die Beratung haben sich zwar ausbezahlt, aber zufrieden bin ich natürlich noch nicht. Im Jahr 2018 erreichten wir einen Gesamtindex von 99 Punkten. Wir verfehlten die 100-Punkte Marke, welche dem schweizerischen Durchschnitt entspricht, damit nur knapp. Um uns zu verbessern, wollen wir beispielsweise noch mehr in die Qualität der Beratung investieren.

Der Kanton Bern nimmt dieses Jahr zusammen mit 15 anderen Kantonen am Projekt «Optimierung RAV-Beratung» des Seco teil. Was versprechen Sie sich davon?


Der Kanton Bern beteiligt sich am Teilprojekt Beratungsintensität, innerhalb dessen eine zufällig ausgewählte Gruppe von Stellensuchenden im ersten halben Jahr ihrer Arbeitslosigkeit deutlich intensiver beraten wird. Wir versprechen uns Erkenntnisse darüber, ob dies die Wirksamkeit der RAV-Beratung steigert, also die Stellenlosigkeit verkürzt.

Wie erfolgreich ist die Stellenmeldepflicht im Kanton Bern?


Organisatorisch hat sich die Stellenmeldepflicht gut eingespielt. Sorge bereitet mir jedoch der erwähnte Mismatch: Wir können den Arbeitgebern nur selten geeignete Kandidaten vorschlagen. Daher sind die Vermittlungserfolge unter dem Strich bescheiden. Hinzu kommt: Die Unternehmen entscheiden selber, wen sie zu einem Vorstellungsgespräch einladen, und sind nicht verpflichtet, uns die Absagegründe mitzuteilen. Das ist ein bisschen störend. Trotzdem finde ich, dass die Stellenmeldepflicht gerade für ältere Arbeitslose, die gut qualifiziert sind, eine Chance ist.

Das Seco hat im Zuge der Stellenmeldepflicht die Website Arbeit.swiss, auf der die offenen Stellen sichtbar sind, überarbeitet. Doch nur ein Viertel der Stellensuchenden nutzt das Portal. Muss man die Anmeldung für obligatorisch erklären?


In einem ersten Schritt sollten die RAV-Beratenden die Kunden für das Portal sensibilisieren. Im Gespräch kann man ihnen zeigen, wie man das Tool gewinnbringend nutzen kann.

Wäre es nicht besser, wenn ein Stellensuchender sich schon vor dem Beratungsgespräch einloggt?


Ja, unbedingt. Stellensuchende Personen können sich auf Arbeit.swiss jederzeit über offene Stellen informieren. Die Prävention von Arbeitslosigkeit ist wichtig. Wir investieren hier viel, aber noch nicht genug. Das Seco misst deshalb mit einem neuen Indikator, wie gut es den RAV gelingt, Arbeitslosigkeit zu verhüten. Das betrifft insbesondere die Zeit während der Kündigungsfrist. Wir empfehlen allen Erwerbstätigen, sich nach einer Kündigung oder bei drohender Arbeitslosigkeit sofort auf dem RAV anzumelden.

Die Stellenmeldepflicht stösst auch auf Widerstand. Der Verband Gastrosuisse und der Baumeisterverband bezeichnen sie als sinnlos und bürokratisch. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?


Nein. Der gesetzliche Auftrag ist klar. Die Meldung der Stellen über die Webplattform ist einfach, und der Aufwand ist verhältnismässig. Man sollte die Stellenmeldepflicht positiv sehen: Im Idealfall findet eine Firma rasch eine geeignete Person. Das spart Kosten.

Es gibt auch Firmen, die nicht meldepflichtige Stellen an die RAV melden.


Ja. Die Firmen unterscheiden oft nicht mehr zwischen meldepflichtigen und nicht meldepflichtigen Stellen. Das begrüssen wir. Viele Unternehmen arbeiten schon seit Jahren gut mit den RAV zusammen. Die Pflege der Kontakte mit den Unternehmen ist deshalb sehr wichtig.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar (2020). «Wir sehen uns als eine Art Reisebüro». Die Volkswirtschaft, 24. Februar.

Marc Gilgen

Der 63-jährige Marc Gilgen leitet das im Mai 2019 neu geschaffene Amt für Arbeitslosenversicherung in der Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion des Kantons Bern. Im bisherigen Amt für Berner Wirtschaft (Beco) war er seit 2010 unter anderem verantwortlich für die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). Aufsichtsbehörde für die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsvermittlung ist das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).