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Ökonomen sind wie Ärzte

Ökonomen sind wie Ärzte

Wie Ärzte können auch Ökonomen nur Ratschläge erteilen und Rezepte verschreiben. (Bild: Alamy)

In Krisenzeiten erwartet die Bevölkerung von Regierungen und Fachleuten Sicherheit und Taten. Standen zu Beginn der Covid-19-Pandemie Epidemiologen im Mittelpunkt der Wahrnehmung, rücken nun aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise die Ökonomen ins Rampenlicht. Von uns werden Prognosen und Rezepte zur Genesung der angeschlagenen Volkswirtschaften erwartet. Aber für einmal fällt es uns paradoxerweise leichter, in die längerfristige Zukunft zu blicken. Wie könnte diese aussehen?

Erstens werden infolge der Krise die globalen Wertschöpfungsketten umgestaltet: Die Kostenoptimierung rückt zugunsten der Resilienz in den Hintergrund. Im Fokus stehen nun extreme Wetterereignisse und politische Umwälzungen. Letztere könnten zu höheren Zöllen führen. Davon würden die Industrieländer profitieren, die dank Automatisierung einen Teil der Produktion ins Inland zurückholen können. Chancen eröffnen sich dabei auch für die Partnerländer der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in Osteuropa und im Westbalkan. Diese Staaten stehen bei Investoren gewöhnlich nicht zuoberst auf der Liste, durch ihre geografische Nähe gewinnen sie nun aber an Attraktivität. Damit einher gehen aber auch höhere Kosten und mehr Inflation. Dabei ist eine etwas höhere Inflation durchaus willkommen, da sich damit die durch die Pandemie verursachte hohe Staatsverschuldung etwas reduzieren liesse.

Zweitens könnte die Krise zu einem politischen Umdenken in der Steuerpolitik führen – bis vor Kurzem noch undenkbar. Angesichts der höheren Staatsschulden werden sich die Regierungen nach neuen Steuereinnahmen umsehen müssen und dabei wohl auch die stärkere Besteuerung von Technologiegiganten und multinationalen Unternehmen in Erwägung ziehen. So dürfte ein kürzlich von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eingebrachter Vorschlag an Zustimmung gewinnen: Staaten sollen für alle auf ihrem Boden erbrachten Leistungen Steuern erheben dürfen, auch wenn die betreffenden Unternehmen über keine physische Präsenz verfügen. Zudem könnte sich die Idee eines weltweiten Mindestansatzes für die Unternehmenssteuer durchsetzen.

Bekenntnis zum Freihandel

Schliesslich wird man nicht länger die Augen verschliessen können vor der Aushöhlung der weltweiten Handelsregeln. Populistische Regierungen könnten Zölle erhöhen und diesen Schritt mit der nationalen Sicherheit und Eigenständigkeit begründen. Die Bilder von an der Grenze blockierten Lieferungen von Schutzausrüstung sind noch ganz frisch und dürften protektionistischen Massnahmen breite Unterstützung garantieren. Zudem wird man nur allzu leicht argumentieren können, dass Ausgleichsmassnahmen gemäss WTO-Recht notwendig seien, um den Binnenmarkt vor subventionierten Importgütern aus Ländern zu schützen, in denen seit dem Lockdown auch Privatunternehmen staatlich unterstützt werden. Um hier Gegensteuer zu geben, hilft nur ein weltweites Bekenntnis zum Freihandel.

Wie Ärzte können auch Ökonomen nur Ratschläge erteilen und Rezepte verschreiben. Gerade in Krisenzeiten und Momenten höchster Gefahr bringen Menschen manchmal den Mut und die Entschlossenheit auf, das Steuer herumzureissen und den Kurs zu korrigieren. Jetzt könnte ein solcher Moment sein.

Zitiervorschlag: Beata Javorcik (2020). Ökonomen sind wie Ärzte. Die Volkswirtschaft, 15. Juni.