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Über Kosten reden? Man darf nicht nur. Man muss

Die Corona-Krise hat den Wert des schweizerischen Gesundheitswesens eindrücklich aufgezeigt. Dennoch muss die Kostendebatte weitergeführt werden – gerade jetzt.

Über Kosten reden? Man darf nicht nur. Man muss

Jeder medizinische Eingriff muss kritisch durchleuchtet werden. (Bild: Alamy)

Die Pandemie hat vieles auf den Kopf gestellt. Auch in der Gesundheitspolitik. Beschränkte sich vor der Krise der Diskurs stark auf die Kosten, stehen aktuell Aspekte wie ein ausreichendes Angebot, ein rascher Zugang und qualitativ gute Leistungen im Zentrum der Debatte.

Dies absolut zu Recht. Die Corona-Pandemie führt uns gerade exemplarisch den Wert eines gut finanzierten öffentlichen Gesundheitswesens vor Augen. Trotzdem – oder vielmehr gerade deshalb – ist es zentral, die Kostenfrage nicht aus den Augen zu verlieren.

Kostendämpfung war bereits vor der Krise kein Selbstzweck. Es geht nicht darum, medizinisch notwendige Leistungen einzuschränken. Es geht darum, Ineffizienzen abzubauen. Anders gesagt: Es handelt sich um die Beseitigung des medizinisch unnötigen Konsums von Gesundheitsleistungen und Gesundheitsprodukten. Dies mit dem Ziel, genügend Ressourcen zu haben für Leistungen, welche tatsächlich medizinisch notwendig sind.

Dass es Ineffizienzen im Gesundheitssystem gibt, ist weitgehend unbestritten. Ein Expertenbericht im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) stellte 2017 fest, dass zu viele medizinisch unbegründete Leistungen erbracht werden. Und folgerte daraus, dass das Potenzial zur Kostendämpfung in der Krankenversicherung bisher nicht ausgeschöpft wird. Eine im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) erarbeitete, noch nicht veröffentlichte Studie[1] bestätigt dies. Wichtige Ursachen für Ineffizienzen sind etwa die angebots- und nachfrageseitige unnötige Mengenausweitung, die mangelnde Koordination in der Versorgung oder zu hohe Preise gewisser Gesundheitsprodukte. Gemäss verschiedenen Schätzungen liegt der Anteil von medizinisch nicht notwendigen Leistungen bei rund 15 bis 20 Prozent. Das ist viel – zu viel.

Gleichzeitig steigt der medizinisch unbestrittene Bedarf. Zum einen aufgrund der demografischen Entwicklung. So wird sich die Zahl der über 80-Jährigen, die oft an chronischen Krankheiten leiden, in den nächsten 25 Jahren verdoppeln. Zum anderen ermöglicht der technologische Fortschritt neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden.

Schwere Last


Schaffen wir es nicht, die Mittel in Zukunft stärker dort einzusetzen, wo der medizinisch unbestrittene Bedarf liegt, wird die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems rasch an ihre Grenzen stossen. Kosteten die Leistungen der Krankenversicherung 1996 noch 11 Milliarden Franken, zahlen wir heute bereits rund 33 Milliarden. Führen wir dieses Tempo fort, sind es in zehn Jahren über 50 Milliarden.

Dieser Anstieg ist eine enorme Belastung für Bund und Kantone. Auf beiden Staatsebenen wächst der Anteil der Gesundheitsausgaben überdurchschnittlich. Sollen die – gerade vor dem Hintergrund der Covid-Krise in Zukunft möglicherweise noch begrenzteren – öffentlichen Mittel auch den zusätzlichen medizinisch notwendigen Bedarf auffangen, braucht es dort Kostendämpfung, wo dies möglich ist.

Eine Belastung stellen die Gesundheitsausgaben insbesondere auch für die Prämienzahlenden dar. Eine regelmässig durchgeführte BAG-Erhebung zeigt: Bezahlten Haushalte in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen 2010 noch 10 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Prämien, waren es vier Jahre später 12 Prozent und 2017 bereits 14 Prozent. Tendenz steigend.

Der Blick auf die aktuelle Krise unterstreicht die Dringlichkeit. Die Zahlen sind eindrücklich – und bedrückend: Hunderttausende von Menschen befinden sich in Kurzarbeit, die Arbeitslosenquote ist sprunghaft angestiegen, und das BIP-Wachstum ist negativ. Die ökonomischen Auswirkungen werden noch Jahre nachhallen – was auf die Kaufkraft der Bevölkerung drückt. Schon vor der Krise war die Belastung für die Prämienzahlenden sehr hoch. Jetzt wird sie für viele noch schwerer tragbar.

Alle Akteure in der Pflicht


Der Bundesrat hat vor einem Jahr das erste von zwei Kostendämpfungspaketen verabschiedet. Derzeit wird es im Parlament beraten. Es beinhaltet die Einführung eines Experimentierartikels für innovative, kostendämpfende Pilotprojekte zur Entlastung der Prämienzahlenden. Zudem nimmt der Bundesrat die Pharmaunternehmen mit einem Referenzpreissystem in die Pflicht: Da Generika in der Schweiz doppelt so teuer sind wie im Ausland, soll für wirkstoffgleiche Arzneimittel ein maximaler Preis festgelegt werden.

Des Weiteren sollen die Tarifpartner analog zum stationären Bereich eine nationale Tariforganisation für den ambulanten Bereich schaffen, damit die aktuellen Blockaden zwischen Leistungserbringern und Versicherern der Vergangenheit angehören. Zudem sollen in Zukunft die Leistungserbringer und Versicherer in gesamtschweizerischen Verträgen für einzelne medizinische Bereiche Massnahmen vorsehen müssen, um ein ungerechtfertigtes Mengen- und Kostenwachstum zu korrigieren.

Leitplanken setzen


Das zweite Massnahmenpaket des Kostendämpfungsprogramms wird der Bundesrat voraussichtlich bald in die Vernehmlassung schicken. Es beinhaltet als zentrale Massnahme die Einführung einer Zielvorgabe für das Kostenwachstum in der Grundversicherung. Die Zielvorgabe erhöht die Transparenz, stärkt die Verantwortung der gesundheitspolitischen Akteure und reduziert medizinisch unnötige Leistungen.

Weiter sind Massnahmen vorgesehen, um die Koordination der Behandlungen im Gesundheitswesen zu verbessern und unnötige Behandlungen zu vermeiden. Dadurch werden nicht nur Kosten gespart, sondern insbesondere die Qualität und die Transparenz sowie die Sicherheit der Patientinnen und Patienten erhöht. Zudem soll ein rascher und möglichst kostengünstiger Zugang zu innovativen, teuren Arzneimitteln gesichert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die Anwendung von Preismodellen auf Gesetzesstufe gefestigt werden.

Wir sind zu Recht stolz auf unser Gesundheitswesen. Und darauf, dass es allen zugutekommt. In normalen Zeiten, aber gerade auch in Krisenzeiten. Und genau darum müssen wir uns heute um die langfristige Tragbarkeit kümmern. Aufgrund beschränkter Mittel der öffentlichen Hand. Aufgrund der steigenden Belastung der Prämienzahlenden. Und im Interesse derjenigen, die eine medizinisch sinnvolle Behandlung benötigen und darauf angewiesen sind, dass die Gesellschaft die Ressourcen hat, sie solidarisch zu unterstützen. Aus all diesen Gründen braucht es eine Eindämmung der medizinisch nicht notwendigen Leistungen. Und darum: Man darf im Moment nicht nur über Kostendämpfung sprechen. Man muss sogar.

  1. Studie des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie ZHAW und von Infras. Veröffentlichung im Herbst 2020 vorgesehen. []

Zitiervorschlag: Thomas Christen (2020). Über Kosten reden? Man darf nicht nur. Man muss. Die Volkswirtschaft, 19. Juni.