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Psyche ist im Spitzensport matchentscheidend

Wie schöpfen Spitzensportler ihr Leistungspotenzial aus? Genauso wichtig wie Talent ist mentale Stärke.
Turniersieger Roger Federer verteilt Pizza an Balljungen und -mädchen am Swiss Indoors in Basel. (Bild: Keystone)

Was verbindet Tennisspieler Roger Federer, Skispringer Simon Ammann und Orientierungsläuferin Simone Niggli-Luder? Sie alle können auf eine jahrzehntelange Karriere zurückblicken und haben in ihren Sportarten mit ihren Leistungen Schweizer Sportgeschichte geschrieben. Ihnen ist gelungen, wonach viele im Spitzensport streben: Ihr sportliches Potenzial wurde entdeckt, das junge Talent gefördert. Ihr sportlicher Aufstieg in die Elitekategorie erfolgte in einem Sportsystem, das auch Hürden- und Stolpersteine kennt. Den drei Ausnahmesportlern ist es trotz schmerzlichen Niederlagen, Verletzungen und Rückschlägen gelungen, ihr Wachstumspotenzial stetig zu entwickeln und ausserordentliche Sportkarrieren zu realisieren.

Welches sind die entscheidenden Rahmenbedingungen, damit es eine Athletin in ihrer Sportart an die Weltspitze schafft? Hilfreich ist ein dreistufiger Erklärungsansatz: vom Potenzial zur Potenzialentwicklung bis hin zur Potenzialentfaltung. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Eigenverantwortung und die Selbstmotivation. Meist beginnt eine Athletenkarriere schon früh, wobei die Nachwuchs- und die Talentförderung eine wichtige Rolle spielen.

Das Selbst entfaltet sich


Ob in der Wirtschaft oder im Sport, allgemein betrachtet umschreibt Potenzial die Fähigkeit zur Entwicklung. Im Sport und unter besonderer Berücksichtigung der Zukunft führt dies zur Frage: Auf welches Leistungsniveau kann eine Sportlerin aufgrund ihres Talents kommen? Aus Sicht des jungen Sportlers bedeutet dies zunächst, seine Lernfähigkeit und Adaption im System Nachwuchsleistungssport zu entwickeln. Federer beschreibt die Zeit als Teenager, die er in der Westschweiz verbrachte, als prägende und für seine Entwicklung äusserst wertvolle Erfahrung: «Vorher war ich immer der Beste, nun war ich plötzlich der Jüngste und Schlechteste.»[1] Da er diese Herausforderung selber gesucht hatte, überwand er nicht nur Gefühle des Alleinseins und Heimwehs, sondern kämpfte sich sportlich durch.

Den entwicklungstheoretischen Hintergrund zu Federers Aussage bietet das Modell der Selbstbestimmungstheorie der beiden US-amerikanischen Psychologieprofessoren Edward Deci und Richard Ryan. Motiviertes Handeln und menschliche Entwicklung hängen demnach immer davon ab, inwieweit die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach Kompetenzerleben, sozialer Anerkennung und Autonomie (Selbstbestimmung) befriedigt werden können. Für die Herausbildung längerfristiger persönlichkeitsbildender Verhaltensweisen spielt die grundsätzliche Förderung der Eigeninitiative in Verbindung mit einer intrinsischen Motivationsgrundlage eine massgebliche Rolle. Vielseitiges und freudvolles Training lässt das Talent eines zukünftigen Sportstars gedeihen und ihn an die Leistungsgrenze gehen.

Nachwuchstalente erkennt man an ihren besonderen physischen und mentalen Fähigkeiten. Sie schaffen meist in jungen Jahren den Durchbruch auf nationaler Ebene. Es sind vor allem die Eltern, die als primäre Wegbegleiter am Anfang einer sportlichen Karriere eines jungen Sportlers stehen.

Eine holistische Betrachtung


Die Talentförderung durch professionell ausgebildete Trainerinnen und Trainer im Schweizer Spitzensport erhält in einer Studie des Sportwissenschafters Hippolyt Kempf aus dem Jahr 2014 gute Noten.[2] Entwicklungspotenzial ortet der ehemalige Nordisch-Kombinierer und Olympiasieger in der Verbesserung der finanziellen Unterstützung, in einer professionelleren Unterstützung der Athletinnen und Athleten sowie in der Modernisierung der Infrastrukturen. Um in die internationale Elite vorzustossen, sind laut Kempf rund 10’000 Stunden Trainingsaufwand nötig. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von rund 24’000 Franken, einer dualen Karriereentwicklung und der Notwendigkeit eines Zweitberufs in rund zwei Dritteln aller Fälle erscheint dieser Weg geradezu steinig.

Fazit: Dem Schweizer Spitzensport mangelt es an Zeit und Geld. Auf dem langfristigen Weg an die Spitze und die Leistungsgrenze gilt es zudem viele Hindernisse und Stolpersteine zu bewältigen. Das Überwinden eines Formtiefs oder einer schweren Verletzung gelten aber gleichzeitig als lernwirksame, für die Persönlichkeitsentwicklung sogar notwendige Selbsterfahrungen. Der herausfordernde Umgang mit sportlichen Niederlagen trägt zur Entwicklung mentaler Stärke bei. Auch das geringe öffentliche Interesse am Spitzensport in der Schweiz schmerzt zwei Drittel der Schweizer Sportlerinnen und Sportler, dadurch behindert fühlen sie sich aber nicht, wie eine Untersuchung aus den Neunzigerjahren zeigt.[3]

Einen alternativen, ganzheitlicheren Zugang zu einer verbesserten Athletenbegleitung schlagen die Sportpsychologen Kristoffer Henriksen und Natalia Stambulova vor.[4] Gemäss ihrem holistischen Ansatz soll beispielsweise die Umgebung einer jungen Athletin insgesamt auf den Sport ausgerichtet sein, basierend auf einer altersdurchmischten Gruppenstruktur, die insbesondere auch der Entwicklung psychosozialer Kompetenzen zuträglich wirkt. Der Vergleich mit ihren sportlichen Vorbildern fördert die Motivation der zukünftigen Leistungsträger.

Die Siegermentalität


Spitzensportler selbst schreiben ihrer Psyche die matchentscheidende Bedeutung zu. Mentale Stärke manifestiert sich dann, wenn es dem Wettkämpfer gelingt, unabhängig von äusseren Bedingungen sein Optimum an Leistungsfähigkeit zu erreichen. Die Potenzialentfaltung gelingt nicht irgendwann, sondern genau dann, wenn es zählt – zum Beispiel im Wimbledon-Final gegen den stärkstmöglichen Gegner.

Worauf Champions im entscheidenden Moment zählen können, verdeutlicht eine wegweisende Studie[5] aus dem Jahr 2001: Sie agieren zuversichtlich, selbstvertrauend und lassen sich durch Kleinigkeiten weniger ablenken. Im Kern dieser Siegermentalität («winning mindset») steht die Annahme einer variablen, lernfähigen und nicht primär den Genen zuzuschreibenden «Mentalität», die aus einem positiven Selbstbild und Selbstbewusstsein gespeist wird.[6] Daraus folgen die Notwendigkeit eines zielführenden Trainings der eigenen mentalen Stärke, ein lernförderlicher Umgang mit Niederlagen und Rückschlägen sowie ein achtsamer Umgang mit Emotionen.

Alpine Extremsportler sehen in der Sinnhaftigkeit ihrer Extremleistung die Verbindung von sportlicher Höchstleistung mit einem ausserordentlichen emotionalen Erlebnis. Dafür sind sie bereit, ihre Komfortzone – auch im Training – immer wieder gezielt, bewusst und unter vollem Einsatz ihres Leistungsvermögens zu verlassen, um die ultimativ notwendigen mentalen Fähigkeiten an ihrem Leistungslimit zu perfektionieren.

Angesprochen auf seine überragende Siegermentalität und seine Fähigkeit, Grenzen noch weiter zu verschieben, sagte Federer in einem Interview 2017, er habe sich zu seinen besten Zeiten stets gefragt, wie er sich weiter verbessern könne.[7] Möglicherweise äussert sich hier jene perfektionistische Grundhaltung, die grosse Athleten zu Stars wachsen lässt. Vielleicht zeigen sich hier aber auch Federers familiäre Wurzeln und seine Bindung zu Südafrika – mit Nelson Mandela, der einst sagte: «Ich verliere nie, entweder ich gewinne, oder ich lerne.»

  1. Stauffer (2019), Kapitel 16. []
  2. Kempf et. al. (2014). []
  3. Schmid (1999). []
  4. Henriksen und Stambulova (2017). []
  5. Gubelmann und Schmid (2001). []
  6. Vgl. Dweck (2012). []
  7. Interview gegenüber «Goalcast»,  2. August 2017. []

Literaturverzeichnis

  • Dweck, C. S. (2012). Mindset: How You Can Fulfil Your Potential. Constable & Robinson Limited.
  • Gubelmann, H. und Schmid, J. (2001). Eine Bestandesaufnahme «mentaler» Schwierigkeiten von Schweizer Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen 2000 in Sydney. In: R. Seiler, D. Birrer, J. Schmid und S. Valkanover (Hrsg.), Sportpsychologie: Anforderungen, Anwendungen, Auswirkungen: Proceedings der Internationalen Fachtagung für Sportpsychologie 2001, 24. bis 26. Mai 2001 in Magglingen (S. 90-92). Köln: bps-Verlag.
  • Henriksen, K. und Stambulova, N. (2017). Creating optimal environments for talent development. In: J. Baker, S. Cobley, J. Schorer und N. Wattie (Eds.), Routledge handbook of talent identification and development in sport (S. 271-284). London: Routledge.
  • Kempf, H., Weber, A.C., Renaud, A. und Stopper, M. (2014). Der Leistungssport in der Schweiz. Momentaufnahme. SPLISS-CH-2011. EHSM/BASPO.
  • Schmid, J. (1999). Psychosoziale Aspekte erfolgreicher Laufbahnen im Leistungssport. Unveröffentliches Manuskript, ETH Zürich, Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften Zürich.
  • Stauffer, René (2019). Roger Federer. Die Biografie, München.

Bibliographie

  • Dweck, C. S. (2012). Mindset: How You Can Fulfil Your Potential. Constable & Robinson Limited.
  • Gubelmann, H. und Schmid, J. (2001). Eine Bestandesaufnahme «mentaler» Schwierigkeiten von Schweizer Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen 2000 in Sydney. In: R. Seiler, D. Birrer, J. Schmid und S. Valkanover (Hrsg.), Sportpsychologie: Anforderungen, Anwendungen, Auswirkungen: Proceedings der Internationalen Fachtagung für Sportpsychologie 2001, 24. bis 26. Mai 2001 in Magglingen (S. 90-92). Köln: bps-Verlag.
  • Henriksen, K. und Stambulova, N. (2017). Creating optimal environments for talent development. In: J. Baker, S. Cobley, J. Schorer und N. Wattie (Eds.), Routledge handbook of talent identification and development in sport (S. 271-284). London: Routledge.
  • Kempf, H., Weber, A.C., Renaud, A. und Stopper, M. (2014). Der Leistungssport in der Schweiz. Momentaufnahme. SPLISS-CH-2011. EHSM/BASPO.
  • Schmid, J. (1999). Psychosoziale Aspekte erfolgreicher Laufbahnen im Leistungssport. Unveröffentliches Manuskript, ETH Zürich, Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften Zürich.
  • Stauffer, René (2019). Roger Federer. Die Biografie, München.

Zitiervorschlag: Hanspeter Gubelmann (2020). Psyche ist im Spitzensport matchentscheidend. Die Volkswirtschaft, 16. Juli.