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Staatshaushalt: Bilanz als Stimulus

Staaten ignorieren in ihrer Haushaltsplanung bilanzielle Zusammenhänge. Eine unerwünschte Folge sind tiefe Zinsen.
Soll der Staat Kunstwerke vermieten? Gemälde (l.) von Eugène Burnand im Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne. (Bild: Keystone)

Das derzeit tiefe Zinsniveau ist vordergründig ein klassisches Marktergebnis: Ein stetig wachsendes Kapitalangebot trifft auf eine abnehmende Kapitalnachfrage. Die Folge ist ein tieferer Preis – oder im Kapitalmarkt eben ein tieferer Zins. Einerseits erhöhen das Bevölkerungswachstum, der global wachsende Mittelstand, sinkende Zinsen sowie eine grössere Anlagetätigkeit der Notenbanken das Angebot. Andererseits führen ein wachsender Dienstleistungssektor, die Globalisierung und der Shareholder-Value-Gedanke zu einem Nachfragerückgang.

Daneben gibt es noch einen weniger bekannten Grund für die tiefe Kapitalnachfrage. Dieser findet sich in der Haushaltsführung der Staaten: Die meisten öffentlichen Verwaltungen blenden in ihrer Finanzsteuerung bilanzielle Zusammenhänge aus. Dadurch werden Neuinvestitionen verhindert. Denn gemäss der historisch gewachsenen Buch- und Geschäftsführungslogik der meisten Staaten müssen langfristige Anschaffungen zum Kaufzeitpunkt aus den laufenden Einnahmen finanziert werden. Zusätzlich verunmöglicht diese Logik auch die Kapitalbewirtschaftung, was zu gebundenem und unproduktivem Kapital führt. Mit Staatsquoten zwischen 26 und 56 Prozent ist die öffentliche Hand der grösste globale Wirtschaftszweig. Ihre Kapitalnachfrage beträgt rund 85 Prozent des Weltaktienmarktes. Ein längst überfälliger Systemwechsel in der Haushaltsführung der Staaten würde daher zu einem Anstieg des Zinsniveaus führen.

Veraltete Praxis


Die Buch- und Geschäftsführungslogik der meisten Staaten basiert heute auf einer Geldflussrechnung (Cash Accounting), ohne Erfolgsrechnung und Bilanz sowie meistens ohne Einbezug von staatsnahen Einheiten. Das Schuldenmanagement, das staatliche Vermögensmanagement sowie Investitionsentscheidungen erfolgen auf Basis der jährlichen Mittelflussrechnung. Eine Mittelflussrechnung, die umgangssprachlich als «Milchbüchleinrechnung» bezeichnet wird, listet den Eingang und den Abfluss der liquiden Mittel auf. Eine Bilanz wiederum unterscheidet zwischen Herkunft (Passiven) und Verwendung (Aktiven) der Mittel, die Differenz zwischen den Aktiven und den Passiven nennt man Eigenkapital. Grosse Nichtregierungsorganisationen und börsenkotierte Unternehmen richten sich bei ihren Bilanzen nach international gültigen Standards wie beispielsweise IPSAS für Staaten und IFRS für börsenkotierte Unternehmen.

Für die Haushaltssteuerung ist in erster Linie der operative Mittelfluss zuzüglich der Neuinvestitionen relevant. Der Haushalt ist ausgeglichen, wenn dieser Betrag durch den operativen Mittelzufluss gedeckt wird. Zwar nehmen zahlreiche Staaten mittlerweile auch Periodenabgrenzungen (Accrual Accounting) ihrer Buchungen vor, was in einer klassischen Mittelflussrechnung nicht die Norm ist. Einige wenige Staaten wie zum Beispiel Neuseeland und die Schweiz erstellen zudem auch konsolidierte Bilanzen und Erfolgsrechnungen.[1] Gerade im Falle der Schweiz werden diese Daten allerdings nicht umfassend zur Haushaltssteuerung verwendet.

In der grossen Mehrheit der Staaten sind die Instrumente, welche zur Disziplinierung der Haushaltssteuerung im Einsatz sind, auf die jährlichen Mittelflüsse abgestellt. Dazu gehört beispielsweise die schweizerische Schuldenbremse, welche definiert, dass Budgetüber­schreitungen über einen Konjunkturzyklus wieder auszugleichen sind und Überschüsse zur Schuldenreduktion verwendet werden müssen. Andere Staaten wiederum kennen einen jährlichen Budgetausgleich oder Obergrenzen für die Neuverschuldung. In vielen Ländern sind zudem die Hürden für den Verkauf von staatlichen Vermögen hoch. Damit soll er­schwert werden, dass durch den Verkauf von «Tafelsilber» der jährliche Ausgabenspielraum vergrössert werden kann.

Unnötige Hemmnisse


Zweifelsohne sind die selbst auferlegten Massnahmen zur Einhaltung der Budgetdisziplin keinesfalls überflüssig. Trotzdem: Der Staat bedient sich heute  eines Buch- und Geschäftsführungskonzepts, welches weniger weit geht als das Instrumentarium, welches bei grossen Organisationen üblich ist. Dies fällt insbesondere bei Investitionen ins Gewicht.

Im Unterschied zu laufenden Kosten handelt es sich bei Investitionen um einmalig zu bezahlende Ausgaben, die über mehrere Jahre einen Nutzen stiften und Unterhaltskosten verursachen. Sie belasten zum Zeitpunkt der Bezahlung den Mittelfluss teilweise erheblich und verursachen in den Folgeperioden budgeteinschränkende, gebundene Ausgaben. Der fehlende Einbezug von bilanziellen Zusammenhängen und den damit verbundenen Kosten bei neuen Investitionen verleitet dazu, dass der Staat sich in den Finanzierungsoptionen unnötig einschränkt. Handkehrum investiert er projektbezogen oft mehr, als es sinnvoll wäre.

Angesichts von knappen Finanzen ist deshalb die Versuchung für den Staat gross, bei Neuin­vestitionen zu sparen – zumal sich eine ausbleibende Investition nicht sofort, sondern erst mit der Zeit bemerkbar macht.

Selbstfinanzierung als Korsett


Darüber hinaus können auch Fiskalregeln die Neuinvestitionen bremsen. Dies ist der Fall, wenn sie verlangen, dass Investitionen «selbstfinanziert» sind und aus den diesjährigen Einnahmen beglichen werden müssen. Sinnvoller wäre es deshalb, die Art der Finanzierung von der Qualität der Bilanz abhängig zu machen. Staaten mit einer gesunden Bilanz könnten die Finanzierung von Investitionen auch über den Kapitalmarkt oder einen «Aktiventausch» sicherstellen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat für zahlreiche Länder deren Bilanzen simuliert.[2] Dabei kommt er zum Schluss, dass viele Länder über gute Bilanzen verfügen und damit eine Selbstfinanzierung nicht immer notwendig wäre.

Ein weiterer investitionshemmender Faktor liegt darin, dass die öffentliche Hand den Grossteil ihrer Dienstleistungen selber erbringt und Inhaberin der «Produktions- und Infrastrukturanlagen» ist. Dafür verantwortlich ist – nebst einem altmodischen Geschäftsfüh­rungsverständnis – die Kostenrechnung, welche die Kosten für die einzelnen Leistungen auflistet: Da bilanziellen Zusammenhängen zu wenig Beachtung geschenkt wird, ist es in den öffentlichen Finanzverwaltungen nicht üblich, Kapitalkosten für Eigen- und Fremdkapital den Investitionen zuzurechnen. Ebenfalls ist es nicht Standard, Gemeinkosten umfassend umzulagern. Dadurch rechnet sich der Staat oft kompetitiver im Vergleich zu Privaten, als er wirklich ist, weil er seine Teilkosten mit den Vollkosten von Privaten vergleicht.

Anders sieht es in der Privatwirtschaft aus: Von der Landwirtschaft bis hin zur Hightech-Industrie ist es nicht mehr üblich, dass man sämtliche vor- und nachgelagerten Leistungen selbst erbringt. Stattdessen haben sich die meisten Unternehmen entlang der Wertschöpfungsketten spezialisiert. Von dieser Entwicklung ist die öffentliche Hand bisher kaum erfasst worden. Deren Geschäftsführungsansatz verteuert deshalb Neuinvestitionsprojekte. Würde die öffentliche Hand nicht Inhaber der Produktionsanlage sein wollen, könnte sie sich mehr Investitionen erlauben. Sie müsste dafür aber die Zusammenarbeit mit neuen Partnern erlernen.

Blindflug in der Kapitalbewirtschaftung


Ein Einbezug der Bilanz in die Haushaltssteuerung der Staaten würde sich auch positiv auf die Kapitalbewirtschaftung auswirken. Denn: Mit der Mittelflussrechnung kann nur das jährliche Schuldenwachstum beeinflusst werden, nicht aber das Gesamtschuldenniveau. Eine Mittelflussrechnung vermag zudem keine Auskunft über den Wert der Vermögensbestände zu geben, womit diese nicht in einen Bezug zu den Schulden gestellt werden können. Damit wird eine kaufmännische Beurteilung der Verschuldungsqualität verunmöglicht und die Nutzung von Verschuldungskapazitäten unterbunden. Eine Mittelflussrechnung allei­n stellt auch nicht sicher, was aus Nachhaltigkeitssicht wichtig wäre: das Eigenkapital, die Bilanzgrösse, die Kapitalintensität und den Kapitalumschlag zu bewirtschaften. Für alle diese Aspekte der Vermögensverwaltung ist ein Bilanzbezug zwingend.

Eine unmittelbare Konsequenz einer fehlenden Bilanzführung und damit der «Asset-Allokation» ist, dass die Sicherung der Werthaltigkeit des Staatsvermögens kein Augenmerk geniesst. Ein unkontrolliertes Wachstum der Bilanz und die Anhäufung von kostentreibendem, unproduktivem «Bilanzballast» kann nicht verhindert werden. Das Thema ist in der Betriebswirtschaft nicht neu, damit mussten sich schon Landwirtschafts- und Industriebetriebe sowie Finanzhäuser auseinandersetzen. Es ist davon auszugehen, dass solche gebundenen Unterhaltskosten der staatlichen Vermögen (inklusive Abschreibungen) um die 20 Prozent des Budgets ausmachen dürften.

Verschärft wird die Problematik des Bilanzwachstums durch die Einschränkungen aus der Mittelflussrechnungs-Logik, welche verhindern sollen, dass Vermögensverkäufe zur Auf­besserung des jährlichen Budgets verwendet werden. Bei einer konsequenten Bilanzbewirt­schaftung in Ergänzung zur Mittelflusssicht wären Einschränkungen dieser Art nicht in der heutigen Rigidität notwendig. Die Verkäufe könnten zum Beispiel auch vermehrt zur Finanzierung von Neuinvestitionen verwendet werden.

In der Schweiz umfassen die öffentlichen Bilanzen mehrere Hundert Milliarden Franken. Allein die konsolidierte Bilanz des Bundes (ohne Kantone und Gemeinden) ist mit rund 370 Milliarden Franken gleich gross wie das gesamte Kreditvolumen Schweizer Firmen im Inland. Sie ist damit auch höher als das Gesamtkapital der drei SMI-Schwergewichte Nestlé, Novartis und Roche (siehe Abbildung).

Konsolidierte Bilanz des Bundes im Vergleich (Ende 2019)




Quelle: Geschäftsberichte (Novartis: 0.9436 USD/CHF), Kreditvolumenstatistik SNB, Konsolidierter Geschäftsbericht Bund / Die Volkswirtschaft

Schlummerndes Potenzial


Schliesslich fehlt ohne bilanzielle Führung grundsätzlich ein nachhaltiger Eigentümerbezug. Die öffentliche Hand nimmt in Kauf, dass schlummernde Vermögens-, Ertragswerte und Fähigkeiten nicht identifiziert und systematisch genutzt werden. Einige davon liessen sich geschäftlich nutzen und hätten das Potenzial, einen Mehrwert zu erwirken. Vermögen könnte besser bewirtschaftet werden, indem beispielsweise die Schweizerische Nationalbank (SNB) den Ertrag, den sie aus dem Goodwill des Frankens erwirtschaftet, ausschüttet. Weiter könnten archivierte Kunstsammlungen oder historische Bauten vermietet werden. Oder Know-how von Universitätskliniken könnte lizenziert werden. Ein grösseres Augenmerk auf solche Ertragswerte und deren systematische Bewirtschaftung könnte nicht nur die Kapitalnachfrage stimulieren, sondern auch Mehreinnahmen für den Staat generieren.

Die öffentliche Hand verfügt ausserdem über Vermögen, welche schon heute in staats­nahen Betrie­ben gebündelt sind. Dazu gehören etwa Post- oder Telekombetreiber, Rüstungshersteller und Finanzdienstleister. Zahlreiche dieser Betriebe sind nicht nach mo­dernen Governance-Grundsätzen geführt, in ihrem geschäftlichen Potenzial eingeschränkt und zu wenig auf eine transparente Mehrwertgenerierung für die Eigentümer ausgerichtet.

Es ist dabei keinesfalls ein «Grundgesetz», dass staatsnahe Betriebe schlecht geführt sein müssen. Beispiele aus Norwegen, Neuseeland oder auch Österreich im Telekom- oder Postbereich belegen, dass, gut geführt, auch Unternehmen mit Staatsbeteiligung sich ausserordentlich gut entwickeln kön­nen.[3] Das konsequente Befolgen der Governance-Richtlinien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hätte zur Folge, dass sich staats­nahe Betriebe stärker international entfalten und, damit einhergehend, auch einen grösseren Kapitalbedarf generieren könnten.

Die Chance jetzt nutzen


Zusammenfassend lässt sich sagen: Die heutige Buch- und Geschäftsführungslogik vieler Staaten wirkt sich negativ auf den Kapitalmarkt aus. Einerseits werden oftmals Neuinvestitionen verhindert, da langfristige Anschaffungen zum Kaufzeitpunkt aus den laufenden Einnahmen finanziert werden müssen. Andererseits wird aber auch die Kapitalbewirtschaftung verunmöglicht, was zu gebundenem und unproduktivem Kapital führt. Die Einführung einer modernen Haushaltssteuerungslogik ist dabei keine politische Entscheidung: ob und allenfalls welche Neuinvestitionen getätigt werden sollen, jedoch schon.

Unabhängig von der politischen Präferenz erschwert der Verzicht auf moderne Steuerungsinstrumente eine effiziente Staatsführung und Politik. Dadurch wird sowohl die Kreditnachfrage als auch die volkswirtschaftliche Dynamik gehemmt – der Druck auf das Zinsniveau bleibt bestehen. Gerade auch im Hinblick auf die Bewältigung der finanziellen Folgen der Corona-Krise täten Staaten also gut daran, mit der Einführung von modernen Haushaltssteuerungsinstrumenten vorwärtszumachen. Damit liessen sich praktisch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Der Staat würde seine Jahresergebnisse aufbessern und gleichzeitig auch den Kreditmarkt stimulieren.

  1. Center for Public Impact (2019). []
  2. IWF (2020). []
  3. «Frankfurter Allgemeine» (2015). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Philipp Weckherlin (2020). Staatshaushalt: Bilanz als Stimulus. Die Volkswirtschaft, 21. September.

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