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Plattformökonomie im Ländervergleich

Sind Arbeitskräfte auf Plattformen angestellt oder selbstständig erwerbend? Je nach OECD-Mitgliedsland fallen die Regelungen unterschiedlich aus. Eine Bestandsaufnahme.

Plattformökonomie im Ländervergleich

In Belgien sind Arbeitsverträge in Risikobranchen wie der Landwirtschaft vorgeschrieben. Hopfenernte in Poperinge. (Bild: Alamy)

Digitale Plattformen haben zu neuen Beschäftigungsformen geführt. Das Geschäftsmodell von Plattformen ist einfach: Sie vermitteln zwischen Anbietenden und Nachfragenden – meist über eine App oder eine Website. Das Aufkommen der Plattformökonomie in den letzten Jahren lässt sich auf drei Faktoren zurückführen: erstens veränderte Präferenzen, zweitens innovative Geschäftsmodelle und Arbeitsorganisation sowie drittens technologische Entwicklungen. Plattformen bieten den Arbeitskräften mehr Freiheiten – namentlich beim Entscheid, wo, wann und wie sie arbeiten möchten. Dies kann zu einer besseren Work-Life-Balance beitragen und den Arbeitsmarkt für Personengruppen öffnen, die bislang auf dem Arbeitsmarkt untervertreten waren.

Die digitale Arbeit auf Abruf – das heisst vollständig online durchgeführte Aufgaben – hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Sie stieg gemäss Oxford Internet Institute von Mai 2016 bis Februar 2019 um etwa ein Drittel (siehe Abbildung 1). Trotzdem ist die Plattformökonomie gesamtwirtschaftlich noch ein eher begrenztes Phänomen. Die meisten internationalen Studien schätzen den Anteil der Plattform-Arbeitskräfte auf 0,5 bis 3 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung.[1] Allerdings sind meist nur wenige und ungenaue Daten verfügbar – vor allem, weil die standardmässigen Arbeitskräfteerhebungen die Plattformökonomie nicht ausreichend abdecken. Für die Schweiz ging das Bundesamt für Statistik (BFS) im Jahr 2019 von einem Anteil von 0,4 Prozent an der Erwerbsbevölkerung aus.[2]

Abb. 1. Zunahme der Onlinearbeit in den OECD-Ländern (Mai 2016–Februar 2019)




Anmerkung: Dargestellt sind die offenen Stellen, die auf den fünf bedeutendsten englischsprachigen Onlinearbeitsplattformen (Freelancer, Guru, Mturk, Peopleperhour, Upwork) neu ausgeschrieben wurden.

Quelle: OECD (2019) / Die Volkswirtschaft

Das schnelle Wachstum der Plattformarbeit, die ihrerseits teils mit schlechten Arbeitsbedingungen assoziiert wird, hat in vielen Ländern die Politik auf den Plan gerufen. Eine Herausforderung aus politischer Sicht sind die grossen Unterschiede zwischen den Plattformen. Während einige Plattform-Arbeitskräfte erfolgreiche Unternehmer sind, sehen sich andere mit einem geringen Einkommen, langen Arbeitstagen sowie nachteiligen Bedingungen für die Gesundheit und die Arbeitssicherheit konfrontiert. Viele Plattform-Arbeitskräfte haben keine genügende soziale Absicherung oder keinen ausreichenden Zugang dazu. Sie geniessen praktisch keinen Beschäftigungsschutz und haben nur in Ausnahmefällen das Recht auf den Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags. Die Covid-19-Krise führte vor Augen, wie benachteiligt manche Plattform-Arbeitskräfte in einzelnen Ländern sein können: Einzelne haben ihr Einkommen verloren oder sind einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt. Deshalb haben einige Plattformen von sich aus gehandelt.[3]

Wann ist eine politische Intervention notwendig? Und auf welche Weise? Schon vor der Corona-Krise diskutierten die Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) diese Fragen intensiv. Klar ist: Es gibt keine Standardlösungen. Je nach Land fallen die Antworten und Massnahmen verschieden aus. Die Herausforderungen, die es zu bewältigen gibt, sowie das zugrunde liegende Problem unterscheiden sich im Einzelfall.

Falsche Einstufung


In Bezug auf eine besondere Schutzbedürftigkeit von Plattform-Arbeitskräften gibt es drei potenzielle Ursachen, die eine Intervention rechtfertigen können. Die erste ist die sogenannte Scheinselbstständigkeit – also eine falsche Klassifizierung der betreffenden Arbeitskräfte. In diesem Fall werden die Plattform-Arbeitskräfte fälschlicherweise als Selbstständigerwerbende eingestuft, obwohl sie de facto als Angestellte arbeiten. Um Scheinselbstständigkeit wirksam zu bekämpfen, müssen Unternehmen und Plattform-Arbeitskräfte die rechtlichen Bestimmungen zur Klassifizierung genau kennen.

Die meisten Länder haben Kriterien festgelegt, die bei dieser Einstufung helfen. Australien hat beispielsweise ein «Independent Contractors Decision Tool» eingeführt. Mit diesem Tool können die Unternehmen anhand von Fragen eruieren, ob ihre Arbeitskräfte als Selbstständigerwerbende oder Angestellte einzustufen sind.

Weitere Ansätze sind die Verlagerung der Beweislast vom Arbeitnehmer auf den Arbeitgeber, die Senkung der Gerichtskosten, die Vereinfachung der Verfahren, die Verringerung der Risiken für die Arbeitskräfte oder der Schutz der Erwerbstätigen vor allfälligen Repressalien. Diese behördlichen Massnahmen ermöglichen den betroffenen Arbeitskräften, ihren Beschäftigungsstatus einfacher oder zu geringeren Kosten anzufechten. In Belgien beispielsweise wird in Bezug auf einige als «risikobehaftet» eingestufte Branchen wie Unterhalt und Sicherheit, Bau, Transport, Gebäudereinigung, Landwirtschaft und Gartenbau davon ausgegangen, dass hier ein Arbeitsvertrag besteht. Solche Anstrengungen könnten mit härteren Sanktionen gegen Arbeitgeber verknüpft werden, die gegen das Gesetz verstossen.

Weiter gilt es Fehlanreize zu beseitigen, die dazu führen, dass Arbeitskräfte falsch klassifiziert werden. So müssen Arbeitgeber für Angestellte vielerorts deutlich höhere Abgaben und Sozialversicherungsbeiträge entrichten als für Selbstständigerwerbende: Wenn die Beitragsunterschiede zwischen Angestellten und Selbstständigerwerbenden sehr gross sind, wie beispielsweise in Grossbritannien oder in den Niederlanden, nimmt die Zahl der Selbstständigerwerbenden deutlich zu.

In der Grauzone


Auch wenn man die Fehlanreize für falsche Einstufungen beseitigt, wird es immer unklare Fälle geben. Zum Beschäftigungsstatus von Plattform-Arbeitskräften wurden schon zahlreiche Urteile gefällt, die in verschiedenen Ländern nicht immer kohärent ausgefallen sind. Gewisse Beschäftigte auf Plattformen lassen sich in der Tat nur schwer kategorisieren: Häufig gelten Plattform-Arbeitskräfte als Selbstständigerwerbende – obwohl sie auch Merkmale (und entsprechend auch die Schutzbedürftigkeit) von Angestellten aufweisen. Somit geniessen sie nicht dieselben Arbeitsrechte und den gleichen Arbeitsschutz wie Angestellte.

Die zweite Ursache, die eine Intervention rechtfertig, liegt somit in dieser rechtlichen Grauzone. Die OECD hat sich dafür ausgesprochen, die Rechte und die soziale Absicherung von Arbeitskräften in dieser Grauzone in einzelnen Ländern auszuweiten. Zu diesem Zweck müssen die zu schützenden Arbeitskräfte eruiert werden, und es muss entschieden werden, welche Rechte und sozialen Absicherungen ausgeweitet werden sollen. In einigen Fällen muss auch der Arbeitgeber bestimmt werden.

Um die Grauzone zu durchleuchten, verfolgen die OECD-Länder unterschiedliche Ansätze. Einige haben spezifische Tätigkeiten ausgemacht, auf die sie bestimmte Rechte und Pflichten zum Beschäftigungsschutz ausdehnen. So geht Frankreich etwa bei darstellenden Kunstschaffenden, Models, Journalisten, Aussendienstmitarbeitenden und «Reisenden» unter bestimmten Bedingungen davon aus, dass ein Arbeitsverhältnis besteht. Andere Staaten richten ihren politischen Fokus auf wirtschaftlich abhängige Selbstständigerwerbende, bei denen ein wesentlicher Teil ihres Einkommens von einem einzigen Kunden abhängt. In Spanien spricht man von «wirtschaftlich abhängigen Selbstständigerwerbenden» [4] und in Deutschland von «arbeitnehmerähnlichen Personen».

Schätzungen zufolge sind in Europa durchschnittlich 16 Prozent der Selbstständigerwerbenden – einschliesslich der Plattform-Arbeitskräfte – finanziell von einem einzigen Kunden abhängig (siehe Abbildung 2). In der Schweiz liegt dieser Anteil bei 8,3 Prozent.

Abb. 2. Anteil der Selbstständigerwerbenden mit einem dominierenden Kunden (einschliesslich Plattform-Arbeitskräfte; 2017)




Quelle: OECD (2019) / Die Volkswirtschaft

Schliesslich greifen einige Länder auf eine weniger klare Definition einer Zwischenkategorie zurück, wie beispielsweise «Worker» in Grossbritannien. Auch das in Frankreich entwickelte Konzept der freiwilligen Charta für Plattform-Arbeitskräfte ist in gewisser Weise mit dieser Zwischenkategorie vergleichbar, da Plattform-Arbeitskräfte als separate Kategorie zwischen Angestellten und Selbstständigerwerbenden betrachtet werden.

Die Ansätze unterscheiden sich auch in Bezug auf die Rechte und die soziale Absicherung, die auf die betroffenen Plattform-Arbeitskräfte ausgeweitet werden. Portugal gewährleistet ihnen den Zugang zur sozialen Absicherung, und in Deutschland besteht für Arbeitskräfte, die Angestellten gleichgesetzt werden, Vereinigungsfreiheit. Ausserdem sind sie in Deutschland zum Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags berechtigt und haben einen Anspruch auf mindestens vier Wochen Ferien.

In Kanada und Schweden wiederum haben auch «abhängige Unternehmer» das Recht auf den Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags, und bei der Beendigung der Geschäftsbeziehung muss eine angemessene Kündigungsfrist eingehalten werden. In Spanien bestehen für wirtschaftlich abhängige Selbstständigerwerbende zahlreiche Rechte und soziale Absicherungen – wie ein Mindesteinkommen, eine Mindestanzahl von Ferienwochen pro Jahr, Rechte bei missbräuchlicher Kündigung, Ferien aus familiären oder gesundheitlichen Gründen oder das Recht auf den Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags.

Schliesslich sollte allenfalls geklärt werden, wer die Verantwortung des Arbeitgebers trägt, da die Plattformarbeit häufig in einer dreiseitigen Beziehung zwischen Arbeitskräften, Kunden und der Plattform besteht. Wenn Plattform-Arbeitskräften beispielsweise das Recht auf den Abschluss eines Gesamtarbeitsvertrags einzuräumen ist, muss entschieden werden, mit wem sie verhandeln: mit ihren individuellen Kunden oder mit der Plattform selbst?

Das Monopson knacken


Die dritte Ursache einer potenziellen Benachteiligung kann sich ergeben, wenn Arbeitskräfte ausserhalb der Plattformen kaum Arbeit finden. In der Ökonomie spricht man in diesem Fall von einem sogenannten Monopson auf dem Arbeitsmarkt. Sprich: In vielen Situationen steht der Macht des Arbeitgebers keine ausreichend starke Verhandlungsposition auf der Seite der Arbeitskräfte gegenüber, was zu einem Rückgang der Beschäftigung und der Löhne sowie zu schlechteren Arbeitsbedingungen führen kann. Dies ist insbesondere für Selbstständigerwerbende eine Herausforderung, da sie häufig durch kartellrechtliche Vorschriften von Verhandlungen über einen Gesamtarbeitsvertrag ausgeschlossen sind.

Angesichts dieses Monopsons stellen sich aus wirtschaftspolitischer Sicht folgende Fragen: Wie ist mit den Ursachen des Monopsons und dem Machtmissbrauch umzugehen? Mit welcher Regulierung des Arbeitsmarkts kann den negativen Auswirkungen entgegengewirkt werden? Und: Wie können die Rechte zur Aushandlung von Gesamtarbeitsverträgen ausgebaut werden?

Es ist erwiesen, dass teilweise auch in der Plattformökonomie wettbewerbswidrige Praktiken angewandt werden. Zum Beispiel kann die mit den Plattform-Arbeitskräften abgeschlossene Vereinbarung eine Klausel enthalten, die es ihnen untersagt, ausserhalb der Plattform mit Kunden in Kontakt zu treten und für diese tätig zu werden. Dies verleiht der Plattform eine starke Position, vor allem wenn sich die betreffenden Arbeitskräfte über die Plattform einen soliden Kundenstamm aufbauen. In solchen Fällen ist es eher unwahrscheinlich, dass die Arbeitskräfte die Plattform verlassen, selbst wenn diese die allgemeinen Arbeitsbedingungen verschlechtert.

Viele Herausforderungen im Zusammenhang mit Plattform-Arbeitskräften sind keine neuen Phänomene, sondern treten bei anderen wirtschaftlichen Aktivitäten schon seit Jahrzehnten auf. Nun geht es darum, diese Probleme zu lösen.

  1. Für weitere Einzelheiten siehe OECD (2018). []
  2. BFS (2020). []
  3. Siehe OECD (2020). []
  4. Trabajador autónomo económicamente dependiente. []

Bibliographie

Zitiervorschlag: Stijn Broecke (2020). Plattformökonomie im Ländervergleich. Die Volkswirtschaft, 21. Dezember.