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Live-in-Betreuerinnen in der Krise

Betreuerinnen aus dem Ausland, die in Schweizer Privathaushalten für ältere Personen sorgen, haben keinen Zugang zu Kurzarbeit. Im Lockdown wurde zudem deutlich, dass sie als Arbeitskräfte nur lückenhaft geschützt sind.
Live-in-Betreuerinnen wohnen über Wochen im Haushalt der betreuungsbedürftigen Person und kümmern sich um diese. (Bild: Keystone)

Seit der Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die zentral- und osteuropäischen EU-Staaten im Jahr 2011 haben sich in der Schweiz sogenannte Live-in-Betreuungsunternehmen etabliert. Sie rekrutieren Arbeitskräfte – fast ausschliesslich Frauen – in den neuen EU-Ländern und vermitteln oder verleihen diese als Altenbetreuerinnen in Schweizer Privathaushalte. Üblicherweise wechseln sich mindestens zwei Betreuerinnen in einem Haushalt ab. Sie stehen jeweils zwei bis zwölf Wochen am Stück in der Schweiz im Einsatz, bevor sie wieder in ihren Heimatstaat zurückkehren und von einer Kollegin abgelöst werden. Während ihrer Einsätze wohnen die Betreuerinnen im Haushalt der betreuungsbedürftigen Person, weshalb man von Live-in-Betreuung spricht. Sie unterstützen diese Personen bei Tätigkeiten wie dem Ankleiden und der Körperpflege, begleiten sie im Alltag und führen den Haushalt. Nach Abzug von Kost und Logis und umgerechnet auf zwölf Monate erhalten sie für diese Arbeit netto durchschnittlich 1500 Schweizer Franken pro Monat.[1]

Konsolidierter Markt


Die genaue Zahl der in der Schweiz tätigen Betreuungsunternehmen sowie der Live-in-Betreuerinnen ist nicht bekannt. Unsere Forschungsgruppe an der Universität Zürich hat über die letzten neun Jahre hinweg mittels Internetrecherchen die in der deutschsprachigen Schweiz operierenden Anbieter mit Sitz in der Schweiz dokumentiert.[2] In der lateinischen Schweiz sind Betreuungsunternehmen weniger etabliert. In diesem Zeitraum ist die Zahl der Unternehmen von 35 auf 62 angewachsen (siehe Abbildung). 54 davon sind im Verzeichnis der bewilligten, privaten Arbeitsvermittlungs- und Personalverleihbetriebe (VZAVG) aufgeführt.

Der Markt erneuert sich schnell: In jeder Dreijahresperiode – 2012, 2015 und 2018 – kommen rund 20 bis 30 neue Unternehmen hinzu. Jeweils ein knappes Drittel bis gut die Hälfte der neu erfassten Unternehmen ist beim nächsten Erhebungszeitpunkt drei Jahre später bereits nicht mehr in der Live-in-Betreuung aktiv.[3] Demgegenüber zeigen sich bei den bereits länger existierenden Unternehmen kaum mehr Abgänge. Diese insgesamt vergleichsweise tiefen Zahlen relativieren den teils in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Boom der Live-in-Betreuungsunternehmen.

Anzahl Live-in-Betreuungsunternehmen in der Schweiz (2012–2021)




Anmerkung: Die Farben geben an, in welchem Jahr die Agenturen erstmals dokumentiert wurden.

Quelle: Eigene Darstellung der Autorinnen / Die Volkswirtschaft

In dieser Erhebung nicht berücksichtigt sind Unternehmen mit Sitz im Ausland, die Personal in die Schweiz vermitteln oder entsenden. Dies ist zwar nicht zulässig, wird aber teilweise trotzdem praktiziert. Einen weiteren blinden Fleck bilden Privathaushalte, welche die Betreuerinnen informell rekrutieren und direkt anstellen. Zu solchen Direktanstellungen existieren keine verlässlichen Zahlen. Während die in der Schweiz ansässigen Vermittlungs- und Verleihunternehmen inzwischen verstärkt kontrolliert werden, besteht bei den Privathaushalten grosser Handlungsbedarf. Denn diese setzen sich häufig über Arbeitsschutzrechte, Mindestlöhne und Sozialversicherungspflichten hinweg.[4]

Mehrbelastung für Unternehmen


Im März 2020 verhängte der Bundesrat strikte Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Diese brachten die transnationale Mobilität der Live-in-Betreuerinnen zeitweilig fast vollständig zum Erliegen. Einzelne Unternehmen reagierten darauf mit einer sofortigen Einstellung der Geschäftstätigkeit. Andere spürten eine reduzierte Nachfrage, weil die potenzielle Kundschaft verunsichert war. Doch auch das Gegenteil kam vor. Einige Unternehmen sprechen von einem Nachfrageboom, den sie den eingeschränkten Besuchsrechten und den Infektionsrisiken in Pflegeheimen zuschreiben. Das zeigen Interviews, die wir in der zweiten Jahreshälfte 2020 mit Verantwortlichen von zwölf Betreuungsunternehmen geführt haben, um ihren Umgang mit den Covid-19-bedingten Herausforderungen zu eruieren.[5]

Übereinstimmend betonen fast alle Befragten, dass ihre Arbeitsbelastung durch die Pandemie massiv gestiegen sei. Einige Firmen erstellten Schutzkonzepte und verteilten ihren Betreuerinnen sofort Masken, Handschuhe, Desinfektionsmittel und Verhaltensmerkblätter. Andere beschreiben ihren grossen Zeitaufwand, um die sich ständig verändernden und teilweise auch kantonal unterschiedlichen Bestimmungen zu recherchieren: Reisemöglichkeiten, Einreisebewilligungen, Quarantänepflichten und mögliche Ausnahmen für die verschiedenen Herkunftsländer ihrer Betreuerinnen. Viele erzählen, sie stünden in intensivem Kontakt mit den Betreuerinnen, den Betreuten und deren Angehörigen, um Fragen und Sorgen aufzunehmen und zu informieren. Einzelne berichten von grossem Organisationsaufwand für Einsatzverlängerungen, ausserordentliche Betreuungsablösungen, Corona-Tests und Anreisen der Betreuerinnen über Grenzen hinweg. Eine Geschäftsführerin wirft stellvertretend für die meisten Interviewten deshalb die Frage auf: «Können wir überhaupt so weiterarbeiten? Ist das machbar personell, von Aufwand und Ertrag?»

Mehrbelastung für Betreuerinnen


Um die Betreuung angesichts von Infektionsrisiken, erschwerten Grenzübertritten und Quarantänepflichten sicherzustellen, verlängern in einem ersten Schritt praktisch alle Unternehmen während des Lockdowns im Frühjahr 2020 die Einsätze ihrer bereits vor Ort befindlichen Betreuerinnen. Zudem fordern sie diese häufig auf, auf Aussenkontakte zu verzichten. Einzelne Unternehmen argumentieren, für die Betreuerinnen habe sich dadurch nicht viel geändert. Sie seien ja sowieso an sieben Tagen rund um die Uhr dort.

Doch die meisten Befragten erwähnen die Zusatzbelastung der Betreuerinnen. Denn diese können ihren Haushalt kaum mehr verlassen, und Ablösungen durch Verwandtenbesuche fallen in vielen Fällen weg. Deshalb betreuen sie die älteren Personen, die oftmals an Demenz erkrankt sind, über Wochen fast pausenlos. Die Befragten konstatieren zum Beispiel, dass ihre Angestellten nach acht Wochen «wirklich fertig» waren, da die Situation noch belastender als sonst sei. Nur zwei der befragten Unternehmen geben an, diese geleisteten Mehrstunden als Überstunden auszuzahlen, eine weitere Firma kompensierte sie mit einem «Bonus» von 200 Franken.

Während einige Betreuerinnen im Lockdown ihre Einsätze verlängern, fallen die Einsätze ihrer geplanten Ablösungen und weitere vorgesehene Betreuungseinsätze wegen abgesprungener Kundschaft aus. Diese Betreuerinnen werden nicht kompensiert für diesen Lohnausfall. Nur eines der befragten Unternehmen versucht Kurzarbeitsentschädigungen zu beantragen. Dies gelingt ihm jedoch nur für wenige Einzelfälle, in denen längere Arbeitsverträge vorliegen. Die in der Live-in-Betreuung üblichen kurzen Einsatzverträge für jeweils wenige Wochen führen dazu, dass Betreuerinnen durch die Maschen der Kurzarbeitsentschädigung fallen. Dies gilt ebenso für Betreuerinnen, die bei Privathaushalten direkt angestellt sind. Anträge auf Kurzarbeitsentschädigung sind den Unternehmen vorbehalten. In einigen Fällen können die Betreuerinnen ihre Einsätze zu späteren Zeitpunkten nachholen. Wo dies nicht möglich ist, fällt das Einkommen der Betroffenen vollständig weg.

Beschwerliche Reisen


In einem zweiten Schritt versuchen die Unternehmen so schnell wie möglich, die Ablösungen ihrer Betreuerinnen wieder zu ermöglichen. Da weiterhin Flüge, Züge und Busse ausfallen und Grenzübertritte eingeschränkt sind, erweist sich dies als aufwendig in der Organisation sowie risikoreich und anstrengend für die Reisenden. Während des Lockdowns im Frühjahr 2020 fahren mehrere Befragte die Betreuerinnen persönlich bis zur Grenze. Während einige diese Reisen als unproblematisch darstellen, erzählen andere von Grenzübertritten mit kilometerlangen Fussmärschen, umständlichen Reisen mit Regionalzügen, bis zu zweitägigen Wartezeiten an Grenzübertritten und irregulären Grenzüberschreitungen. Hinzu kommen die mit den Reisen verbundenen Infektionsrisiken, denen sich die Betreuerinnen aussetzen.

Grosse Unterschiede zeigen sich auch im Umgang mit Quarantänevorschriften. Einige Befragte berichten von Betreuerinnen, die unmittelbar nach ihrer Rückkehr ins Herkunftsland für bis zu zwei Wochen in Quarantäne mussten. Bei der Einreise in die Schweiz setzen allerdings nur zwei Unternehmen und nur für kurze Zeit Quarantänemassnahmen um. Sie stellen den Betreuerinnen während zehn Tagen vor ihren Einsätzen in der Schweiz Zimmer und Verpflegung zur Verfügung. Alle anderen Unternehmen verzichten auf diese Massnahme. Einige argumentieren, dass die Betreuerinnen als systemrelevantes Gesundheitspersonal von der Quarantänepflicht ausgenommen seien. Andere finden, die Betreuerinnen würden sich zusammen mit der betreuungsbedürftigen Person direkt im Haushalt quasi beim Arbeiten in Quarantäne begeben. Für die Tage in Quarantäne werden die Betreuerinnen nicht entschädigt. Einzig ein befragtes Unternehmen bezahlt ihren Betreuerinnen für die Quarantänetage in einer separaten Unterkunft in der Schweiz einen Bonus, der rund einem Drittel der üblichen Entlöhnung entspricht.

Betreuungsarbeit besser schützen


Unsere Erkenntnisse zur Live-in-Betreuung während der Covid-19-Pandemie widerspiegeln die Überlastung, die Unterbezahlung und den mangelnden Arbeitskräfteschutz, welche derzeit auch in vielen anderen Bereichen des Gesundheitswesens sichtbar werden. Einerseits haben sich diese Probleme durch die Pandemie noch verschärft. Andererseits werden sie von der Öffentlichkeit nun vermehrt wahrgenommen. Im Falle der transnational rekrutierten Betreuerinnen kommen zusätzliche Herausforderungen hinzu: Erstens hat das Zusammenleben von Betreuerin und Betreuten in einem Haushalt zur Folge, dass Erholung kaum möglich ist und geleistete Mehrstunden aufgrund von wegfallenden Ablösungen, beispielsweise an Wochenenden, nicht sichtbar und auch nicht entschädigt werden.

Zweitens führen die üblichen kurzen Einsatzverträge von jeweils nur wenigen Wochen dazu, dass die Unternehmen keinen Zugang zu Kurzarbeitsentschädigungen haben und die Betreuerinnen bei ausgefallenen Einsätzen ganz ohne Lohn dastehen. Hier zeigen sich problematische Lücken in der Gesetzgebung und in den staatlichen Unterstützungsmassnahmen. Personen in prekären Arbeitsverhältnissen sind davon in besonderem Masse betroffen.

Und drittens führen die erschwerten Reisen und Grenzübertritte in Pandemiezeiten vor Augen, wie fragil ein Betreuungsmodell ist, das aufgrund der belastenden Arbeitssituation in einem Live-in-Verhältnis und der tiefen Bezahlung die Arbeitskräfte alle paar Wochen auswechseln und über mehrere Landesgrenzen hinweg rekrutieren muss. Einige Befragte veranlasst dies auch, das Modell grundsätzlich zu hinterfragen. So sagt ein Geschäftsführer: «Wenn die Betreuerinnen zwei Wochen da sind und dann zwei Wochen in Quarantäne müssen, dann geht das Konzept nicht mehr auf.»

Gleichzeitig hat das Pandemiejahr auch dazu beigetragen, die in Schweizer Privathaushalten geleistete Betreuungsarbeit sichtbar zu machen. Nun gilt es, sie auch in der Arbeitsgesetzgebung als vollwertige Arbeit anzuerkennen und den Betreuerinnen dieselben Arbeitsschutzrechte zu gewähren. Im Fokus stehen dabei nicht primär die Betreuungsunternehmen, sondern insbesondere die Privathaushalte in ihrer Rolle als Arbeitgebende. Bis heute stellen sie in Gesetzgebung und Aufsicht einen blinden Fleck dar.[6]

  1. Truong et al. (2012), S. 18. []
  2. Diese Forschung ist Teil des Projekts «Decent Care Work» in Kooperation mit Jennifer Steiner von der Universität Zürich; Aranka Benazha, Amanda Glanert, Helma Lutz, Iga Obrocka und Ewa Palenga von der Universität Frankfurt am Main; sowie Brigitte Aulenbacher, Michael Leiblfinger und Veronika Prieler von der Universität Linz. []
  3. Entspricht etwa der durchschnittlichen Überlebensrate von neu gegründeten Unternehmen im Schweizer Gesundheits- und Sozialwesen, die nach drei Jahren 72 Prozent beträgt (BFS, 2020). []
  4. ILO (2013). []
  5. Für die Perspektive der Betreuerinnen siehe z. B. Leiblfinger et al. (2020); Odehnal (2020); Schilliger et al. (2020). []
  6. Wir danken unseren Befragten, unserem Forschungsteam im «Decent Care Work»-Projekt sowie Huey Shy Chau, Bożena Domańska, Sarah Schilliger, Sarah Steinegger und Jasmine Truong für ihre wertvollen Beiträge. []

Literaturverzeichnis

  • BFS, Bundesamt für Statistik (2020). Unternehmensdemografie (UDEMO) BFS Aktuell, Ausgabe vom Dezember 2020.
  • ILO, International Labour Organisation (2013). Domestic Workers Across the World.
  • Leiblfinger Michael et al. (2020). Impact of COVID-19 Policy Responses on Live-In Care Workers in Austria, Germany, and Switzerland. Journal of Long-Term Care, Heft 3, S. 144–150.
  • Medici, Gabriela (2015). Migrantinnen als Pflegehilfen in Schweizer Privathaushalten. Zürich: Schulthess.
  • Odehnal, Bernhard (2020). Mit der Schweiz bin ich fertig. Tages-Anzeiger vom 17. Oktober 2020, S. 37–38.
  • Schilliger, Sarah (2014). Pflegen ohne Grenzen? Polnische Pendelmigrantinnen in der 24h-Betreuung. Dissertation an der Universität Basel.
  • Schilliger, Sarah et al. (2020). Grenzerfahrungen in der Betreuung von Betagten. Wochenzeitung WOZ vom 07. Mai 2020.
  • Truong, Jasmine et al. (2012). Ein transnationaler Markt im Privathaushalt: Analyse des Pflege- und Betreuungsmarkts in der Stadt Zürich. Geographisches Institut der Universität Zürich im Auftrag der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich.
  • van Holten, Karin et al. (2013). Care-Migration – transnationale Sorgearrangements im Privathaushalt. Obsan Bericht 57: Neuenburg.

Bibliographie

  • BFS, Bundesamt für Statistik (2020). Unternehmensdemografie (UDEMO) BFS Aktuell, Ausgabe vom Dezember 2020.
  • ILO, International Labour Organisation (2013). Domestic Workers Across the World.
  • Leiblfinger Michael et al. (2020). Impact of COVID-19 Policy Responses on Live-In Care Workers in Austria, Germany, and Switzerland. Journal of Long-Term Care, Heft 3, S. 144–150.
  • Medici, Gabriela (2015). Migrantinnen als Pflegehilfen in Schweizer Privathaushalten. Zürich: Schulthess.
  • Odehnal, Bernhard (2020). Mit der Schweiz bin ich fertig. Tages-Anzeiger vom 17. Oktober 2020, S. 37–38.
  • Schilliger, Sarah (2014). Pflegen ohne Grenzen? Polnische Pendelmigrantinnen in der 24h-Betreuung. Dissertation an der Universität Basel.
  • Schilliger, Sarah et al. (2020). Grenzerfahrungen in der Betreuung von Betagten. Wochenzeitung WOZ vom 07. Mai 2020.
  • Truong, Jasmine et al. (2012). Ein transnationaler Markt im Privathaushalt: Analyse des Pflege- und Betreuungsmarkts in der Stadt Zürich. Geographisches Institut der Universität Zürich im Auftrag der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich.
  • van Holten, Karin et al. (2013). Care-Migration – transnationale Sorgearrangements im Privathaushalt. Obsan Bericht 57: Neuenburg.

Zitiervorschlag: Karin Schwiter, Anahi Villalba, (2021). Live-in-Betreuerinnen in der Krise. Die Volkswirtschaft, 23. Februar.