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Stresstest Corona: Was taugt der Föderalismus in Krisenzeiten?

Der föderale Staatsaufbau der Schweiz gilt weithin als Erfolgsmodell. Allerdings hat die Corona-Krise diesem Bild tiefe Risse zugefügt. Braucht es in Krisenzeiten mehr Zentralisierung?
In der Pandemie als Kantönligeist, Kakofonie und Gstürm verschrien: Hat der Föderalismus ausgedient? (Bild: Keystone)

Krisen zeichnen sich durch hohe Unsicherheit und sich schnell verändernde Rahmenbedingungen aus. Sie erfordern schnelles und entschiedenes Handeln. Das setzt ausserordentliche Reaktionsfähigkeit und kurze Entscheidungswege voraus. Glaubt man dem medialen Kanon, so ist der Föderalismus mit seinen uneinheitlichen Massnahmen und den institutionell bedingten Doppelspurigkeiten in der Corona-Krise hinderlich. Von Kantönligeist, Kakofonie und Gstürm ist die Rede. Aber ist diese Interpretation zutreffend?

Im Gegensatz zum Zentralismus können beim Föderalismus die Aufgaben dezentral, auf nachgeordneter Ebene eigenverantwortlich erbracht werden – müssen es aber nicht. Denn in einem föderalen Staatswesen geht es primär darum, eine geeignete Aufgabenteilung zwischen den Staatsebenen zu finden. Das gilt auch in der Krise.

Die Idee des Föderalismus ist von drei grossen Leitideen gekennzeichnet:

Erstens können die Präferenzen und Gegebenheiten zwischen den Regionen sehr unterschiedlich sein. Um dieser Heterogenität Rechnung zu tragen, sind teilweise unterschiedliche politische Interventionen angezeigt.[1] Da zentrale Entscheidungen kaum den nötigen Spielraum für regionale Unterschiede erlauben und typischerweise nur unzureichend in der Lage sind, lokales Wissen zu aggregieren, sind dezentrale Entscheidungsstrukturen bei Heterogenität überlegen.[2]

Zweitens ist bei grosser Unsicherheit über die angemessene Reaktion ein einheitliches Krisenmanagement mit Risiken verbunden. Bei grosser Unsicherheit wäre es reiner Zufall, würde man systematisch die richtigen Entscheide fällen. Wahrscheinlicher ist, dass sich im Nachhinein viele Entscheidungen als Fehler entpuppen. Bei dezentralen Entscheidungen können hingegen unterschiedliche Lösungsansätze ausprobiert werden. Dadurch machen nicht alle den gleichen Fehler. Dieser beschleunigte Such- und Entdeckungsprozess[3] kann gerade in Krisen den entscheidenden Vorteil bringen.

Drittens sind die Bürger bei dezentralen Entscheidungen in der Lage, die Performance ihrer Regierenden in vergleichbaren Situationen zu evaluieren. Das führt zu politischem Wettbewerb.[4] Denn gescheiterte Politikmassnahmen werden durch diese Vergleichbarkeit von den Wählern schneller erkannt und an der Urne sanktioniert. Das erhöht den Druck auf die Regierung, in einer Krise schneller und besser zu lernen.

Die richtige Ebene


Die ebenengerechte Aufgabenteilung ist die Essenz des Föderalismus. Der Zentralstaat verantwortet typischerweise jene Bereiche, die sich durch grosse Skaleneffekte auszeichnen. Aufgaben also, wo regionale Aspekte und Unterschiede kaum eine Rolle spielen und koordiniertes Vorgehen im Zentrum steht. Dezentral organisiert werden hingegen Aufgaben, die sich durch regionale Unterschiede auszeichnen – etwa durch unterschiedliche Präferenzen oder divergierende Wirtschafts-, Gesellschafts- und Siedlungsstrukturen. Aufgaben, die den Umgang mit Spillovers regeln, können für eine regionale Ausdehnung sprechen. Das heisst, die Aufgabenteilung der räumlichen Ausbreitung anzugleichen oder über einen Finanzausgleich zu internalisieren. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Externalitäten nicht alle gleichmässig treffen und Internalisierungsstrategien sehr wohl geografisch differenziert werden können.

Natürlich gibt es auch zentralstaatliche Aufgaben, die ergänzend zu primär dezentral angeordneten Aufgaben wirken. So liegt beispielsweise die medizinische Versorgung der Bevölkerung hauptsächlich in der Kompetenz der Kantone. Trotzdem gibt es auch hier Aufgaben, die sich durch hohe Skalenerträge auszeichnen und wo die Zentralisierung von Ressourcen Effizienzvorteile hat. Beispiele sind die Lagerhaltung von essenziellen Materialien (z. B. Medikamente, Ausrüstung), der Aufbau von spezifischen Humanressourcen (z. B. wissenschaftliche oder technische Expertise) oder die Bildung von Reserveeinheiten (z. B. medizinisches Personal, Logistik).

Klare Aufgabenteilung zentral


Die Aufteilung von Aufgaben bedingt allerdings eine klare Zuordnung von Verantwortung und Handlungskompetenz. Es gilt der Grundsatz, dass Handlungskompetenz und Verantwortung eine Einheit bilden müssen. Denn wer entscheidet, ohne dafür die Verantwortung zu tragen, hat wenig Anreiz, gesellschaftlich optimale Entscheidungen zu treffen.

Eine ähnliche Symmetrie gilt auch zwischen Ausgaben und Einnahmen. Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz besagt, dass Ausgaben und Einnahmen auf der gleichen Staatsebene bestritten werden müssen.[5] Die Einheit von Kompetenz und Verantwortung sowie die fiskalische Äquivalenz bilden zusammen das Haftungsprinzip – ein Kernelement der Föderalismustheorie und eine Voraussetzung für funktionierenden Föderalismus.

Trend zur Vergemeinschaftung


Der Schweizer Föderalismus ist in vieler Hinsicht im Einklang mit der ökonomischen Theorie. Ein zentrales Problem jedoch ist die Verwischung und Vergemeinschaftung von Verantwortung und Handlungskompetenz. Gerade Verbundaufgaben gelten als Treiber der schleichenden Zentralisierung. Sie führen in die «Politikverflechtungsfalle», bei der sich die Staatsebenen durch kooperative Konsultationsorgane und Vetopositionen ständig blockieren. Reformen oder effizientes Reagieren in einer Krise sind so kaum mehr möglich.[6]

In der Corona-Krise wurde dies offenkundig. Die besondere Lage, welche dem Zentralstaat bei der Pandemiebekämpfung viele Kompetenzen einräumt und in welcher gleichzeitig die Kantone umfangreich konsultiert werden müssen, hat die Verantwortung für die Massnahmen vergemeinschaftet. Das hat dazu geführt, dass unangenehme Entscheidungen zwischen den Staatsebenen hin- und hergeschoben und zu spät oder gar nicht getroffen wurden. Ein Symptom dieser Entwicklung ist die Zunahme der Verbundaufgaben und -finanzierungen, die sich eindrücklich in der immer wichtiger werdenden Koordination mittels kantonaler Konferenzen manifestiert.

Die zunehmende Entwicklung hin zu einem solchen unitarischen Föderalismus, wie ihn beispielsweise Deutschland kennt (siehe Kasten), hat mit der Pandemie neuen Schub erhalten. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KDK) zieht aus der Pandemie beispielsweise die Lehre, dass es einen weiteren Ausbau der zwischenstaatlichen Vergemeinschaftung und Koordination braucht. So soll für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen künftig ein paritätisch zusammengesetztes Führungsgremium auf politischer Ebene eingesetzt werden, das die geteilte Verantwortung der Staatsebenen adäquat abbildet.[7]

Auch der Vorschlag von Finanzdirektorenpräsident Ernst Stocker zur Verteilung der Mehrwertsteuereinnahmen auf die Kantone zielt in Richtung des deutschen Föderalismus.[8] Das überrascht. Denn wissenschaftliche Arbeiten zu den Föderalismusreformen I, II und III diagnostizieren Deutschland Handlungsbedarf in diesem Bereich. Und auch in der Schweiz wurde noch 2001 mit der Botschaft zu den umfangreichen Arbeiten zum Nationalen Finanzausgleich das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz als Leitschnur der Entflechtung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen breit anerkannt.[9]

Vorsicht «Nirvana-Falle»


Die Forderung nach mehr Koordination und Zentralisierung während der Corona-Krise entspricht bei näherer Betrachtung einer unbegründeten Hoffnung auf den kooperativen, unitarischen Föderalismus. Man nennt dies die sogenannte Nirvana-Falle. Dabei hofft man, die beobachteten Mängel im aktuellen Corona-Management der Kantone würden sich beim Bund oder der KDK nicht einstellen. Ein analytischer Schluss ist das nicht. Die Forschungsergebnisse zum realen unitarischen Föderalismus sind da jedenfalls weniger ermutigend.

Aus unserer Sicht kann der Schweizer Föderalismus mit seinen weitgehend selbstverantwortlichen Kantonen auch in der Pandemie viele Vorteile bieten. Zentral ist dabei der Anreiz, sich durch innovative Politikexperimente zu verbessern. Der Prozess des «Trial and Error» generiert Wissen über die Funktionsfähigkeit der gewählten Eindämmungsstrategie, die ein rational und zentral geplantes Staatssystem so nicht hervorbringen kann.

Damit die Vorteile des Föderalismus allerdings zum Tragen kommen, muss das Haftungsprinzip eingehalten werden. Staatsaufgaben müssen ebenengerecht zugeordnet bzw. entflochten und gleichzeitig die dafür notwendigen Steuerquellen erschlossen werden. Haftung, Kontrolle und Risiko gehören in eine Hand – entweder beim Kanton oder beim Bund –, aber nicht in gemischte Verbundpartnerschaften oder interkantonale Konferenzen.

Viele Probleme des Föderalismus während der Corona-Krise sind entstanden, weil das Haftungsprinzip missachtet wurde. Verbundaufgaben und -finanzierungen, Defizitübernahmen und erst recht die schleichende Zentralisierung bergen Risiken, weil man dadurch immer stärker in die «Politikverflechtungsfalle» gerät, wo schnelles und situationsangepasstes Reagieren nicht mehr möglich ist.

Ein vitaler Föderalismus benötigt einen starken Bund und starke Kantone – beide allerdings mit klar zugeteilten Kompetenzen. Der Bund muss institutionell so stark sein, dass er den Subventionsbegehren der Kantone effektiv widerstehen kann und die Vergemeinschaftung ablehnt. Die Kantone müssen umgekehrt institutionell so stark sein, dass der Bund nicht schleichend die Kontrolle über ihre Aufgabenerfüllung übernimmt.

  1. Oates (1972/1999), Tiebout (1956). []
  2. Hayek (1945). []
  3. Hayek (1945). []
  4. Besley und Case (1995). []
  5. Olson (1969). []
  6. Scharpf (1985). []
  7. Siehe KDK (2020). []
  8. Siehe Stocker (2021). []
  9. Siehe Bundesrat (2001). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Christoph A. Schaltegger, Mark Schelker, (2021). Stresstest Corona: Was taugt der Föderalismus in Krisenzeiten. Die Volkswirtschaft, 26. April.

Der unitarische Föderalismus Deutschlands

Im Unterschied zum dezentralen Föderalismus der Schweiz wird Deutschland als «unitarischer» Föderalismus bezeichnet. Damit wird die stärkere Kooperation zwischen Bundes- und Landesebene im deutschen Bundesstaat bezeichnet. Der Deutsche Bund erlässt einen Grossteil der Gesetze unter Mitwirkung der Bundesländer im Bundesrat (Pendant zum Schweizer Ständerat) und delegiert deren Ausführung an die Länder. In der Schweiz ist dieser Vollzugsföderalismus ebenfalls ausgeprägt, allerdings geniessen die Kantone grössere wettbewerbliche Freiheiten.

 

Ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland betrifft das institutionelle Gefüge. In der Schweiz kann der Bund nur jene Aufgaben übernehmen, welche ihm die Verfassung zuweist – alle anderen Aufgaben verbleiben bei den Kantonen. Das obligatorische Referendum und das Ständemehr bilden hier eine natürliche «Zentralisierungsbremse», die Deutschland so nicht kennt. Die deutsche Gesetzgebung ist stärker zentralisiert. In beiden Ländern zeigen sich Verflechtungstendenzen zwischen den Staatsebenen mittels Gemeinschafts- bzw. Verbundaufgaben oder Leistungs- und Rahmengesetzen. In Deutschland sind diese allerdings weit ausgeprägter.

 

Zentrale Unterschiede gibt es bei den Steuerkompetenzen. In Deutschland sind die wichtigsten Steuerquellen als Gemeinschaftssteuern zentralisiert und werden auf die Staatsebenen verteilt. Die Schweiz ist stärker im Trennsystem verblieben. Eine Ausnahme ist die Einkommens- und Ertragssteuer, die ebenfalls im Verbund von Bund und Kantonen genutzt wird. Die Steuerkompetenzen bleiben dabei aber klar getrennt. Im Ergebnis entfaltet sich zwischen den Kantonen mehr Steuerwettbewerb als in Deutschland, wo dieser weitgehend unterbunden ist.