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Trotz Schuldenbremse: Die öffentliche Hand nutzt die Tiefzinsphase

Hemmen strenge Fiskalregeln die öffentliche Hand, bei einer Zinssenkung Investitionen auszuweiten? Nein, lautet das Fazit einer Studie. Sie entkräftet damit ein altes Vorurteil.
Das Theater St. Gallen noch vor der aktuellen Sanierung. Der Ostschweizer Kanton hat strenge Fiskalregeln. (Bild: Keystone)

Die Frage nach der angemessenen Höhe öffentlicher Investitionen wird seit je kontrovers diskutiert – und dies unabhängig von der konkreten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Gemengelage. In den vergangenen Jahren waren insbesondere niedrige Zinsen und strenge Fiskalregeln der Anstoss zu dieser Debatte. Kritiker der Schuldenbremse argumentieren, dass die günstigen Refinanzierungsmöglichkeiten eine ideale Gelegenheit böten, um zukunftsweisende Investitionen zu tätigen. Der Investitionsbedarf ist ihrer Ansicht nach in vielen Bereichen überfällig. So sei beispielsweise dem Klimawandel entgegenzutreten, und die Digitalisierung der öffentlichen Einrichtungen müsse konsequent vorangetrieben werden; öffentliche Angebote in der Verwaltung und dem öffentlichen Nahverkehr sollten zudem durch Investitionen an eine zunehmend älter werdende Gesellschaft angepasst werden.

Die Begründung, weshalb eine solche Investitionsoffensive ausbleibt, ist sodann schnell gefunden:[1] Die Schuldenbremsen auf Bundes- und Kantonsebene würden die Handlungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand zu stark beschneiden. Kritiker von (strengen) Schuldenbremsen wollen erkannt haben, dass wesentliche öffentliche Investitionen zurückgehalten werden, weil Bundes- und Kantonsgesetze einen ausgeglichenen Haushalt für wichtiger erachten als Zukunftsinvestitionen. Sollten die Befürworter der Aufweichung oder Abschaffung von Schuldenbremsen hiermit recht behalten, könnte die zurückhaltende Investitionstätigkeit des Staates einen gesamtwirtschaftlichen Wohlstandsverlust mit sich bringen.

Verhinderte Investitionen?


Im Rahmen seiner Ressortforschung hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die Ursachen und Auswirkungen des Tiefzinsumfeldes in mehreren Studien untersuchen lassen. Im Auftrag des Seco hat das Walter-Eucken-Institut aus Freiburg im Breisgau gemeinsam mit der Universität Luzern empirisch untersucht, inwieweit die Kantone und Gemeinden in der Schweiz die Tiefzinsphase nutzen, um ihre Investitionstätigkeiten auszuweiten. Darüber hinaus interessiert uns, ob kantonale Schuldenbremsen eine Investitionsoffensive trotz sinkender Zinsen verhindern.[2]

Um es gleich vorweg zu sagen: Die Studie kann diese These nicht bestätigen. Vielmehr finden sich Hinweise, dass Kantone mit strengen Verschuldungsregeln besonders deutlich auf sinkende Zinsen reagieren, indem sie ihre Investitionen ausweiten. Dieses Ergebnis ist ein Hinweis darauf, dass strenge und gesetzlich verankerte Fiskalregeln vielmehr präventiv und weniger korrektiv wirken. Oder anders ausgedrückt: Politiker und Verantwortliche der öffentlichen Verwaltung passen ihr Verhalten im Sinne einer Fiskalregel zwar an, dies hindert sie jedoch nicht daran, auf gesamtwirtschaftlich günstige Situationen angemessen zu reagieren (beispielsweise auf eine unerwartete Zinssenkung durch die Ausweitung von Investitionsausgaben).[3]

Rückläufige Kantonsinvestitionen


Von 1991 bis in die Mitte der Nullerjahre waren die Investitionsausgaben[4] von Schweizer Gemeinden rückläufig. Danach, zwischen den Jahren 2007 und 2009, stiegen sie an und stabilisierten sich auf höherem Niveau (siehe Abbildung). Anders auf Kantonsebene: Dort sind die durchschnittlichen Investitionsausgaben seit 1991 rückläufig. Diese Entwicklung bei den Kantonen ist im Trend ungebrochen und weist keine aussergewöhnlichen Ausschläge auf. In der deskriptiven Betrachtung der Abbildung lässt sich die These, ob fallende Zinskosten zu steigenden öffentlichen Investitionsausgaben führen, allerdings nicht abschliessend untersuchen. Ebenso wenig lässt sich so ein kausaler Zusammenhang zwischen sinkenden Bruttoinvestitionen und der Einführung oder Verschärfung von Fiskalregeln beweisen (beispielsweise in den Jahren 1996 oder 2003, als mehrere Kantone ihre Fiskalregeln deutlich verschärften). Antworten auf solche Fragen kann nur eine empirische Untersuchung geben.

Entwicklung von Investitionsausgaben in Schweizer Kantonen und Gemeinden (1991 bis 2018)




Quelle: Eidgenössische Finanzverwaltung, Finanzstatistik [Stand: 15.04.21] / eigene Darstellung der Autoren / Die Volkswirtschaft

Die empirische Untersuchung in der Studie konzentriert sich auf die Entwicklung öffentlicher Investitionsausgaben zwischen den Jahren 2009 und 2018: In diesem Zeitraum nach der weltweiten Finanzkrise war der Leitzins der SNB sehr niedrig, teilweise sogar negativ. Untersuchungsgegenstand sind alle 26 Kantone sowie alle Gemeinden mit über 5000 Einwohnern.

Im ersten Analyseschritt untersuchen wir mit einem linearen Regressionsmodell, geschätzt in ersten Differenzen, inwieweit eine Veränderung in den kantons- und gemeindespezifischen Fremdkapitalkosten Auswirkungen auf die Veränderung der jeweiligen Investitionsausgaben hat. Für beide föderalen Ebenen zeigt sich, dass eine Senkung der kantons- oder gemeindeeigenen Fremdkapitalkosten mit einer Erhöhung öffentlicher Investitionsausgaben einhergeht. Besonders deutlich ausgeprägt ist dieser Zusammenhang bei Bauinvestitionen und bei Investitionen im Bildungssektor.

Kantonale Fiskalregeln nicht hemmend


Doch trotz des Resultats, dass niedrigere Fremdkapitalkosten mit höheren öffentlichen Investitionen korrelieren, bleibt die Frage offen, ob öffentliche Investitionsentscheidungen bei einer Zinssenkung ohne Fiskalregeln umfangreicher ausgefallen wären. Um diese Frage zu untersuchen, unterteilen wir für eine Differenzen-von-Differenzen-Identifikationsstrategie die 26 Kantone in zwei Gruppen: Kantone mit strengen und Kantone mit lockeren Fiskalregeln (siehe Kasten). Während die Kantone St. Gallen, Wallis und Solothurn die strengsten Fiskalregeln haben, sind die Schuldenbremsen von Luzern, Jura und Basel-Stadt eher grosszügig. Der Kanton Appenzell Innerrhoden, der als einziger keine gesetzliche Schuldenbremse besitzt, wurde der Gruppe mit weniger strengen Fiskalregeln zugeordnet.

Sodann untersuchen wir, ob die Kantone dieser beiden Gruppen unterschiedlich auf ein unerwartetes Ereignis reagieren, auf dessen Eintritt und Ausmass sie keinen Einfluss nehmen können. Besagtes unerwartetes Ereignis war die deutliche Leitzinssenkung der SNB in Zusammenhang mit der Auflösung der Franken-Euro-Wechselkursbindung am 15. Januar 2015. Wir nutzen die Tatsache, dass der Leitzins einen direkten Einfluss auf die Renditeentwicklung von schweizerischen Staatsanleihen und auf die Konditionen hat, zu denen sich die öffentliche Hand verschulden kann.[5]

Würden strenge Fiskalregeln eine Ausweitung von Investitionen bei sinkenden Zinsen verhindern, könnten Kantone mit sehr strengen Fiskalregeln ihre öffentlichen Investitionen nach der Leitzinssenkung kaum oder überhaupt nicht erhöhen. Doch diese These bestätigt sich in keiner Modellspezifikation.[6] Im Gegenteil: Kantone mit strengen Fiskalregeln bauten nach dem Zinsschock ihre Investitionen sogar deutlicher aus als Kantone mit lockeren Fiskalregeln. Zudem stiegen die Bruttoinvestitionen ab dem Jahr 2015 nur in Kantonen mit strengen Fiskalregeln steil an; dies ist ein weiteres Argument gegen die genannte Kritik an Schuldenbremsen.

Der grosse Nutzen strenger Fiskalregeln liegt weniger in der Korrektur von fiskalischen Verfehlungen als vielmehr in ihrer präventiven Wirkung. Politische Entscheidungsträger passen ihr Verhalten den gesetzlichen Gegebenheiten an. Fiskalregeln sind somit dann nachhaltig wirksam, wenn sie als langfristige Gegebenheit wahrgenommen werden.[7]

  1. Siehe die Diskussion von Feld et al. (2019) mit Hüther, Südekum (2019) sowie Fratzscher et al. (2019). []
  2. Siehe Feld et al. (2021). Verfügbar auf Seco.admin.ch[]
  3. Zur Wirkung von Fiskalregeln auf (transparentere) Verhaltensweisen von politischen Entscheidungsträgern siehe ergänzend Luechinger und Schaltegger (2013). []
  4. In der Studie werden Investitionsausgaben im Sinne der Kontengruppe 5 des schweizerischen Rechnungslegungssystems für öffentliche Haushalte (HRM2) definiert. []
  5. Siehe Grisse, Schumacher (2017) und Lengwiler et al. (2015). []
  6. Für den zinssenkenden Effekt von Fiskalregeln siehe Feld et al. (2017). []
  7. Siehe Burret und Feld (2018a); Burret und Feld (2018b); Schaltegger und Salvi (2017); Schaltegger und Salvi (2019) sowie Schaltegger und Weder (2014). []

Zitiervorschlag: Lars P. Feld, Christoph A. Schaltegger, Yannick Bury, Philipp Weber, Laura A. Zell, (2021). Trotz Schuldenbremse: Die öffentliche Hand nutzt die Tiefzinsphase. Die Volkswirtschaft, 22. Juli.

Quantifizierung von Fiskalregeln

Um die Kantone hinsichtlich der Strenge ihrer Fiskalregeln zu sortieren und in Gruppen einzuteilen, müssen die entsprechenden Gesetzestexte in eine quantitative Skala übergeführt werden. Zur Quantifizierung von Fiskalregeln orientieren wir uns an Yerly (2013). Wir greifen die dort definierten sechs Komponenten auf und schreiben den Index bis zum Jahr 2018 fort. Zur konsistenten Bewertung innerhalb des Beobachtungszeitraums weichen wir in einigen Fällen von Yerly (2013) ab. Die sechs Komponenten bewerten folgende Bereiche:

 

1) die Rechtsquelle (Ist die Fiskalregel in der Verfassung, einem formellen Gesetz oder einer Verordnung festgeschrieben?),

2) Budget und Jahresrechnung (Berücksichtigt die Fiskalregel die Elemente der Haushaltsplanung und -durchführung gleichermassen?),

3) die Bestandteile der Jahresrechnung/des Budgets, die ausgeglichen sein müssen (Gibt es Ausnahmen für Investitionsausgaben oder Schuldentilgung?),

4) der Zeitpunkt, bis wann ein Haushalt ausgeglichen sein muss,

5) Symmetrie von Abschreibung und Schuldentilgung (Wenn Kredite für Investitionsausgaben erlaubt sind: Müssen dann Kredite jährlich in dem Umfang getilgt werden, in dem das Investitionsobjekt buchhalterisch an Wert verliert?) sowie

6) die Implementierung und Ausgestaltung von Sanktionen, falls eine unerlaubte Verschuldung doch eintritt.

 

Für jede der sechs Komponenten werden Punkte vergeben; je restriktiver und umfassender die Fiskalregel ist, desto höher ist die Punktzahl. Die Summe aller Punkte wird in einer Skala von null bis 100 dargestellt. Die Quantifizierung der Fiskalregeln erfolgt unter der Annahme, dass keine konjunkturelle oder fiskalische Sondersituation vorliegt. Einige Fiskalregeln, die im «Normalzustand» besonders streng sind, ermöglichen umfangreiche fiskalische Spielräume in Krisensituationen (beispielsweise in der Finanz- oder der Corona-Krise).

Literatur

  • Burret, H. T. und L. P. Feld (2018a). (Un-)Intended Effects of Fiscal Rules, European Journal of Political Economy, 52, 166–191.
  • Burret, H. T. und L. P. Feld (2018b). Vertical Effects of Fiscal Rules: The Swiss Experience, International Tax and Public Finance, 25 (3), 673–721.
  • Feld, L. P. et al. (2017). Sovereign Bond Market Reactions to Fiscal Rules and No-Bailout Clauses – The Swiss Experience, Journal of International Money and Finance, 70, 319–343.
  • Feld, L. P. et al. (2019). Öffentliche Investitionen: Die Schuldenbremse ist nicht das Problem, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 20 (4), 2019, 292–303.
  • Feld, Lars P., Christoph A. Schaltegger, Yannick Bury, Philipp Weber, Laura Zell und Steffen Zetzmann (2021). Öffentliche Investitionen und Fiskalregeln im Tiefzinsumfeld. Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 28. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern, Schweiz.
  • Fratzscher, M. et al. (2019). Gut investierte Schulden sind eine Entlastung in der Zukunft, Wirtschaftsdienst – Zeitgespräche, 313–317.
  • Grisse, C. und S. Schumacher (2017). The Response of Long-Term Yields to Negative Interest Rates: Evidence from Switzerland, SNB Working Papers (5), 1–37.
  • Hüther, M. und J. Südekum (2019). Die Schuldenbremse – eine falsche Fiskalregel am falschen Platz, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 20 (4), 284–291.
  • Lengwiler, C., P. et al. (2015). Gemeinden profitieren von tiefen Zinsen, Die Volkswirtschaft (8-9), 88, 54–57.
  • Luechinger, S. und C. A. Schaltegger (2013). Fiscal Rules, Budget Deficits and Budget Projections, International Tax Public Finance, 20, 785–807.
  • Schaltegger, C. A. und M. Salvi (2017). Die Schuldenbremse lebt von der Stabilitätskultur, Wirtschaftliche Freiheit – Das ordnungspolitische Journal.
  • Schaltegger, C. A. und M. Salvi (2019). 10 Antworten zur Schweizer Schuldenbremse – Und was Deutschland aus dieser Diskussion mitnehmen könnte, Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt) 9, 23–30.
  • Schaltegger, C. A. und M. Weder (2014). Fiscal Adjustment and the Costs of Public Debt Service: Evidence from OECD Countries, Applied Economics (22), 46, 2593–2610.
  • Yerly, N. (2013). The Political Economy of Budget Rules in the Twenty-Six Swiss Cantons – Institutional Analysis, Preferences and Performances, Thesis, Faculty of Economics and Social Sciences at the University of Fribourg (Switzerland).