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Das BIP erfasst Wohlstandsaspekte wie Lebenszufriedenheit, Vermögensverteilung und Sicherheit nicht. Zu Recht.
Gerhard Schwarz, Dr. oec., Präsident der Progress Foundation, Zürich

Standpunkt

Es hat sich in 50 Jahren wenig geändert: Die Kritik am Bruttoinlandprodukt (BIP) als Massstab des Wohlstands und erst recht der Wohlfahrt war schon 1969, im ersten Semester meines volkswirtschaftlichen Studiums in St. Gallen, Teil des Standardprogramms. Das Lehrbuchbeispiel lautete, dass das BIP sinkt, wenn ein alleinstehender Mann seine Haushälterin heiratet, weil Hausarbeit innerhalb der Familie weitestgehend unberücksichtigt bleibt. Im BIP werden nur mit einem Lohn abgegoltene Tätigkeiten erfasst. Was nicht über monetäre Märkte abgewickelt wird, somit auch ein grosser Teil des in der Schweiz wichtigen Milizwesens, bleibt dagegen aussen vor. «Kann eine solche Messgrösse sinnvoll sein?», lautete die Frage. Und auch an der Antwort hat sich wenig geändert. Sie lautet Ja, wenn man sich bewusst macht, dass es keine valablen Alternativen gibt, wenn man das BIP in der Wirtschaftspolitik richtig einsetzt und, vor allem, wenn man von dem Konstrukt nicht mehr erwartet, als es leisten kann und will.

Das BIP soll lediglich die wirtschaftliche Wertschöpfung eines Landes abbilden. Das tut es, wenn auch (in der Schweiz) nur zu gut 60 Prozent. Es erfasst nämlich nur jene Wertschöpfung, bei der Geld fliesst. Selbstverständlich trägt unbezahlte Arbeit aber ebenfalls zum Wohlstand bei. Insofern sind wir reicher, als es das BIP pro Kopf zum Ausdruck bringt (wobei der emotionale Gewinn etwa einer Pflege durch den Partner in den eigenen vier Wänden statt durch entlöhntes Personal in einem Heim noch dazukommt). Noch mehr gilt dies für Länder mit einem höheren Anteil an nicht marktlicher Wirtschaft und an Schattenwirtschaft.

Eine Wachstumsillusion

Umgekehrt haben der Rückgang der unbezahlten Arbeit und die Partizipation der Frauen am Arbeitsmarkt in der letzten Zeit eine Wachstumsillusion bewirkt. Zum Teil führt das Outsourcing von Aufgaben, die früher «inhouse» erledigt wurden, nämlich zu einem Wachstum statistischer Natur. Bringt man ein Kind in die Krippe, statt es daheim zu betreuen, geht man ins Restaurant, statt zu Hause zu kochen, oder lässt man waschen, statt es selbst zu tun, wächst das BIP in entsprechendem Umfang. Die Integration der Frauen mit ihren beruflichen Fachkenntnissen in die monetäre Wirtschaft brachte somit zwar durchaus einen realen Wachstumseffekt, aber wegen der Verlagerung von unbezahlter zu bezahlter Arbeit zusätzlich auch einen bloss statistischen Wachstumsschub.

«Reicher», als es das BIP zeigt, sind wir erst recht, wenn man Reichtum nicht nur wirtschaftlich versteht. Das BIP misst weder die politischen Rechte noch die Freiheit der Bevölkerung eines Landes. Es misst auch nicht die Rechtssicherheit, die individuelle Sicherheit, das Glück, den sozialen Zusammenhalt, die Umweltqualität oder den Gesundheitszustand. Das alles – und vieles mehr – trägt jedoch zur Lebensqualität bei. Wer moniert, dass es im BIP nicht erfasst werde, sollte bedenken, dass materieller und immaterieller Reichtum in hohem Masse, wenn auch schwer fassbar, miteinander korrelieren. Zwar bringen Mehrausgaben nicht per se höhere Qualität, aber irgendwie schlagen sich die Ausgaben für Gesundheit, Bildung oder öffentliche Sicherheit, um nur einige Beispiele zu nennen, eben doch in der Qualität dieser Bereiche nieder.

Umweltgüter bepreisen

Seit dem Aufkommen der Umweltökonomie, also seit 50 Jahren, wird mit Recht kritisiert, dass das BIP negative Externalitäten wie Klimawandel und Umweltverschmutzung höchstens indirekt erfasst, also nur, wenn man etwa Umweltschäden beseitigt. Das liesse sich jedoch mit einer richtigen Bepreisung der Umweltgüter und einer Internalisierung der externen Effekte beheben und ruft nicht nach einer Neuberechnung oder einem Ersatz des BIP.

Hingegen ist es ein Kategorienfehler, zu fordern, das BIP müsse auch die Einkommens- und Vermögensverteilung einbeziehen. Richtig ist nur, dass Aussagen über die Verteilung, die auf dem BIP basieren, eine zu starke Ungleichheit zeigen. Bezöge man den nicht marktlichen Bereich mit ein, präsentierte sich die in der Schweiz relativ gleichmässige Verteilung der Primäreinkommen wohl noch gleichmässiger, weil vermutlich im oberen Einkommensbereich mehr über Bezahlung, im unteren Bereich mehr über Freiwilligenarbeit abgewickelt wird.

Keine Alternative

Viel Unbehagen mit dem BIP hat damit zu tun, dass diverse Wachstumskritiker es gewissermassen für ein «unbegrenztes Wachstumsstreben» der Wirtschaftspolitik verantwortlich machen. Das trifft jedoch auf die reicheren Staaten praktisch nicht mehr zu. Kluge liberale Politik hat schon lange die gesamte Lebensqualität im Auge, wenn sie nach einer Besserstellung der Menschen strebt. Das BIP dient dabei niemals als alleiniger Massstab, sondern nur als zentrale Referenzgrösse, für die es keine praktikable und sinnvolle Alternative gibt. Wenn man zu viele Ziele in einen Gesamtindikator zu packen versucht, tut man so, als ob man damit das Problem der wirtschaftspolitischen Zielkonflikte löse. Dabei versteckt man es nur.

Wie viel Gleichheit will man dem Wohlstand opfern? Wie viel Innovation der Stabilität? Wie viel Freiheit der Sicherheit? All das sind politische Entscheide, die nicht von einem Gesamtindex zugedeckt werden sollten. Solch komplexere Indizes, ob sie nun das Human Development, die Happiness oder das Better Life messen wollen, weisen noch mehr Tücken auf als das BIP, sind weniger operationabel und für internationale Vergleiche ungeeigneter. Das BIP bleibt bei allen Schwächen eine wertvolle Orientierungsgrösse.

Zitiervorschlag: Gerhard Schwarz (2021). Standpunkt: Die alte Leier vom unbrauchbaren BIP. Die Volkswirtschaft, 04. Oktober.