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«Die Krise hat gezeigt: Die Digitalisierung muss an Tempo zulegen»

Damit sich die Industrie 4.0 entwickeln kann, setzt Bundespräsident Guy Parmelin insbesondere auf gute Rahmenbedingungen. Auch wenn er den digitalen Wandel in der Corona-Pandemie begrüsst – der persönliche Kontakt bleibt für den Wirtschaftsminister essenziell.

«Die Krise hat gezeigt: Die Digitalisierung muss an Tempo zulegen»

Guy Parmelin beim Interview im Bundeshaus: «Routineaufgaben lassen sich zwar automatisieren, wenn es aber um wichtige Entscheide geht, bevorzuge ich das Gespräch an einem Tisch.» (Bild: Jonah Baumann / Die Volkswirtschaft)

Herr Parmelin, hat Covid-19 Ihnen das erste Jahr als Bundespräsident verdorben?

(schmunzelt) Die Präsidentschaft bleibt eine Ehre und Verantwortung. Aber sie wurde durch die Pandemie komplizierter. Beispielsweise ist es sehr schwierig, mit dem Ausland bilaterale Treffen abzuhalten. Gerade bei solchen Treffen werden oft Vereinbarungen diskutiert und abgeschlossen. Dafür konnte ich mich mehr der Schweiz zuwenden: Als Bundespräsident konnte ich der Bevölkerung begegnen, auch wenn die Distanzregeln den direkten Kontakt erschwerten.

Wie sieht die Bilanz Ihrer Präsidentschaft bisher aus?

Die Bilanz ist eher positiv. Die Begegnungen mit der Bevölkerung haben mir gezeigt, dass die Massnahmen im Grossen und Ganzen verstanden wurden. Oft habe ich gehört: «Wir danken Ihnen, wir möchten nicht an Ihrer Stelle sein.» Das Gipfeltreffen des amerikanischen Präsidenten Joe Biden und des russischen Präsidenten Wladimir Putin, das im Juni in Genf stattfand, war auch für unser Land von ganz besonderer Bedeutung. Es hat deutlich gemacht, wie sehr die Schweiz auf internationaler Ebene für solche Treffen geschätzt wird.

Worin liegt die Bedeutung dieses Gipfeltreffens für die Schweiz?

Am Rande dieses Gipfeltreffens konnten wir mit den Präsidenten Biden und Putin bilaterale Gespräche führen. Daraus hat sich beispielsweise ergeben, dass ich Ende November zur «Woche der Berufslehre» in die Vereinigten Staaten reise. Auf diesem Gebiet verfügt die Schweiz über grosse Erfahrung und anerkanntermassen über viel Know-how. Ich werde dort auch die Gelegenheit haben, verschiedene amerikanische Minister zu treffen.

Ich mache mir Sorgen über den Anstieg einer gewissen Intoleranz, welchen die sozialen Medien vielleicht noch verstärken

Sie haben Ihre Präsidentschaft unter das Zeichen des Zusammenhalts gestellt. Durch die Pandemie, und insbesondere die Impffrage, ist dieser Zusammenhalt allerdings gefährdet. Wie sehen Sie das?

Die Gefahr von Auswüchsen und Gewalt bereitet mir Sorge. Die Schweiz hat zum Glück eine Kultur der demokratischen Debatte und verfügt mit den Initiativen und Referenden über wichtige Volksrechte. Auch wenn die Debatten hitzig geführt werden, muss man sich mit seinem Gegner an einen Tisch setzen können. Trotzdem mache ich mir Sorgen über den Anstieg einer gewissen Intoleranz, welchen die sozialen Medien vielleicht noch verstärken. Die Umfragen zeigen indes, dass die schweigende Mehrheit der Politik des Bundesrates zustimmt. Jede und jeder Einzelne muss sich fragen, welchen Beitrag sie oder er leisten kann, damit wir aus der Krise herauskommen.

Ihre Präsidentschaft steht auch im Zeichen der Europapolitik. Wie geht es nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union (EU) weiter?

Wir hatten bereits Treffen mit mehreren Staaten, um ihnen die Schweizer Position zu erklären. Weitere Treffen werden noch kommen. Wir möchten das bestmögliche Verhältnis zur EU beibehalten und auf dieser Basis die bilateralen Beziehungen weiterentwickeln. Über 100 Übereinkommen mit der EU funktionieren prima. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir gewisse Vereinbarungen mit der EU so verbessern können, dass eine Win-win-Situation entsteht. Das gilt etwa für die Zusammenarbeit in der Medizintechnik und in der Forschung.

Kommen die abgebrochenen Verhandlungen zum Rahmenabkommen die Schweiz aus wirtschaftlicher Sicht teuer zu stehen?

Der Bundesrat hat immer deutlich darauf hingewiesen, dass ein Verhandlungsabbruch Konsequenzen hat. Dennoch ist er zum Schluss gekommen, dass in zentralen Punkten des Übereinkommens substanzielle Unterschiede zwischen der Schweiz und der EU bestehen blieben. Die EU und die Schweiz sind so eng miteinander verstrickt, dass keine der beiden Parteien ein Interesse an einer Verschlechterung der Beziehungen hat. Die bilateralen Übereinkommen gelten weiterhin. Welche Auswirkungen der Entscheid, das institutionelle Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen, hat, hängt in hohem Mass von der Reaktion der EU und der künftigen Entwicklung des europäischen Binnenmarkts ab: Diese Auswirkungen lassen sich nicht zuverlässig beziffern.

Was will der Bundesrat tun, um negative Auswirkungen zu begrenzen?

Wir haben vor einiger Zeit angefangen, Abfederungsmassnahmen zu planen und so weit wie möglich umzusetzen. Wir sind insbesondere bestrebt, die Schweizer Börse zu schützen, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und die Überwachung des Medizinproduktmarkts sicherzustellen. Auch Massnahmen zugunsten der Forschung haben wir ergriffen.

Langsam machen sich die Folgen der abgebrochenen Verhandlungen zum Rahmenabkommen in der Schweiz bemerkbar. So wird die Schweiz etwa beim EU-Rahmenprogramm «Horizon Europe» als nicht assoziierter Drittstaat behandelt. Ist eine vollständige Teilnahme noch möglich?

Das ist weiterhin das Ziel des Bundesrates. Bis dahin sind Übergangsmassnahmen zu treffen, namentlich vom Schweizerischen Nationalfonds und von Innosuisse. Mit solchen Massnahmen lassen sich die negativen Folgen einer begrenzten Teilnahme mildern – aber nicht wegzaubern. Allerdings muss sich dazu das Parlament in der Wintersession bei der Beratung des Budgets noch äussern.

Wird die Forschung in Geiselhaft genommen, geht die Rechnung nicht auf

Ist eine rein schweizerische Finanzierung wirklich eine nachhaltige Alternative?

Kurzfristig können wir bei Schweizer Beteiligungen an EU-Projekten anstelle der EU einspringen und gewisse Ersatzmassnahmen finanzieren. Für den Fall, dass die Blockade aber mittel- und langfristig anhält, sind wir bereits heute mit anderen Ländern, die sehr stark an der technischen Entwicklung beteiligt sind, im Gespräch – etwa mit den USA, Israel und Singapur. Wird die Forschung in Geiselhaft genommen, geht die Rechnung nicht auf. Dann verliert letztendlich der gesamte europäische Kontinent gegenüber Asien und Nordamerika an Bedeutung.

Mit den USA soll bis Ende 2021 die Verständigungsvereinbarung über die Berufsbildung erneuert werden. Will man so die Ungewissheiten mit der EU kompensieren?

Kontakte im Bereich der Berufsbildung – und übrigens auch mit den amerikanischen Universitäten und Hochschulen – gibt es schon lange. Wir wollen den bestmöglichen Austausch auf allen Ebenen. Die Schweiz gehört auf verschiedenen Gebieten zur Weltspitze, und dort wollen wir auch bleiben. Der Bundesrat ist deshalb bereit, verschiedene Abkommen auszuarbeiten, entweder als Alternative oder als Ergänzung zu «Horizon Europe».

Kommt die Schweiz dadurch einfacher zu einem Freihandelsabkommen mit den USA?

Nein, da muss man unterscheiden: Wir haben noch mit der Regierung Trump exploratorische Gespräche aufgenommen. Nun müssen wir schauen, ob die Regierung Biden diesen Weg fortsetzen will oder nicht. Eventuell könnten die USA oder die Schweiz feststellen, dass eine Fortsetzung keinen Sinn ergibt. Dann müssten wir ausloten, ob es sinnvoller ist, genauer umrissene Fragen wie etwa den digitalen Handel zu vertiefen. Die Beziehungen mit den USA, unserem weltweit zweitwichtigsten Handelspartner, sind bereits intensiv.

Die Schweiz nimmt nach der Covid-Krise wieder Fahrt auf. Wie sehen Sie die Zukunft?

Wenn ich die Wirtschaftslage unseres Landes betrachte, sehe ich das Glas halb voll. Die Schweiz ist gut aufgestellt. Die wirtschaftliche Aktivität dürfte im vergangenen Sommer über dem Vorkrisenniveau gelegen haben. Voraussichtlich wächst die Wirtschaft dieses Jahr um 3,2 Prozent. Es gibt zwar Branchen wie bestimmte Tourismuszweige und die Veranstaltungsbranche, die nach wie vor leiden. Im Grossen und Ganzen steht die Schweiz aber vergleichsweise gut da.

Wie erklären Sie sich diese relativ komfortable Situation?

Wir haben Lösungen gefunden, um während der Lockdowns wirksam zu helfen. Die Covid-Kredite wurden in Rekordzeit auf die Beine gestellt und haben bei den Unternehmerinnen und Unternehmern Vertrauen geschaffen: Sie konnten auf die Bank gehen und erhielten ihren Kredit ziemlich rasch, nachdem sie ein entsprechendes Gesuch gestellt hatten. Die Kurzarbeitsentschädigung war ebenfalls ein effizientes Instrument, um über die Runden zu kommen, genau wie die Ausweitung der Erwerbsausfallversicherung auf bestimmte Kategorien selbstständig erwerbender Personen.

Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Strukturen zu erhalten, die vielleicht keine Zukunft haben

Ist mit einem verzögerten Einbruch zu rechnen, wenn die Wirkung der Bundeshilfen verpufft ist?

Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass es zu mehr Konkursen kommt. In der ausserordentlichen Lage liessen sich aussergewöhnliche Massnahmen zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen rechtfertigen. Aber es ist nicht die Aufgabe des Staates, Strukturen zu erhalten, die vielleicht keine Zukunft haben. Neue Rahmenbedingungen sind entstanden, zum Beispiel mit der Digitalisierung und dem Homeoffice.

Was können diese neuen Rahmenbedingungen bewirken?

Sie könnten den seit einiger Zeit ins Stocken geratenen Strukturwandel beschleunigen, insbesondere im Detailhandel, im Massentourismus, bei Konferenzen und in der Veranstaltungsbranche. Andere bereits laufende Entwicklungen, etwa computergesteuerte Wertschöpfungsketten, könnten von einer beschleunigten Digitalisierung profitieren. Das stärkt zudem die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsplatzes.

Zurzeit sind wir in der sogenannten Normalisierungsphase; dennoch werden die Finanzhilfen für die Wirtschaft nicht sofort eingestellt. Welche Massnahmen sind für die Unternehmen am wichtigsten?

Das Ziel ist es, die Unternehmen arbeiten zu lassen und die Hindernisse überall dort zu beseitigen, wo es möglich ist. Dabei sollen die ausserordentlichen Finanzhilfen allmählich auslaufen. Die Kurzarbeitsentschädigung steht, solange nötig, weiterhin zur Verfügung. Zusätzliche strukturelle Hilfen braucht es nicht mehr, ausser natürlich wenn wir wieder härtere Massnahmen ergreifen müssen. Mit dem Impulsprogramm von Innosuisse, «Innovationskraft Schweiz», kann der Bund sich stärker an Innovationsprojekten von KMU beteiligen und verschafft ihnen damit Zukunftsperspektiven. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Unternehmen diese Mittel eher dazu nutzen, um ihr Überleben sicherzustellen, als in ihre künftige Entwicklung zu investieren.

Der Bundesrat möchte mit der Digitalisierung die Wirtschaft ankurbeln. Welches Potenzial birgt dieser Wandel?

Die Krise hat gezeigt: Die Digitalisierung muss an Tempo zulegen. Als man von einem Moment auf den anderen von zu Hause aus arbeiten musste, um das Unternehmen oder die Verwaltung am Laufen zu halten, wurde deutlich, dass Programme wie das Onlineportal für Unternehmen Easygov unerlässlich sind. Die Digitalisierung ermöglicht effizienteres Arbeiten und tiefere Kosten. Trotzdem: Der direkte Kontakt bleibt meiner Meinung nach zentral. Routineaufgaben lassen sich zwar automatisieren, wenn es aber um wichtige Entscheide geht, bevorzuge ich das Gespräch an einem Tisch.

Sie besuchen zahlreiche Industriebetriebe und halten Reden an Industriemessen. Wie sehr macht sich da die zweite Digitalisierungswelle, die Industrie 4.0, bereits bemerkbar?

Die Unternehmen, die ich in letzter Zeit besucht habe, haben sich bereits neu ausgerichtet: Sie tragen diesen Aspekten in der Weiterbildung Rechnung, und sie legen fest, was automatisiert und in die globalen Wertschöpfungsketten integriert werden kann. Zahlreiche Unternehmen beschäftigen sich mit der Frage, ob dieser Digitalisierungsschritt beschleunigt oder von einer zielgerichteten Weiterbildung begleitet werden muss.

Heute muss ein Bildungsplan bereits wieder angepasst werden, bevor die Tinte, mit der er verfasst wurde, trocken ist

Wie lässt sich verhindern, dass Leute auf der Strecke bleiben?

Die Entwicklungen sind so rasant, dass die Bildungsprogramme vielleicht nicht Schritt halten können. Bisher haben Bund, Kantone und Berufsverbände einen Bildungsplan für 15 Jahre erarbeitet. Heute muss dieser Plan bereits wieder angepasst werden, bevor die Tinte, mit der er verfasst wurde, trocken ist. Unser duales Bildungssystem ist eine unserer Stärken, aber man muss die notwendigen Lehrkräfte finden und die Bildungsgänge anpassen.

Offenbar verfolgen Sie die Industrie 4.0 sehr genau. Warum?

Meine wichtigste Motivation: Die Schweiz muss in dieser Etappe der wirtschaftlichen Entwicklung stark bleiben. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Schweiz aufgrund mangelnder Innovation in bestimmten Bereichen an Terrain verloren. Zum Glück wurden diese Tendenzen erkannt und korrigiert. Heute hat die Wettbewerbsfähigkeit beispielsweise im Bereich der Werkzeugmaschinen und der Automatisierung wieder zugenommen. Das Netz hoch spezialisierter KMU ist Teil der DNA unseres Landes. Wenn ein Produkt mit hohem Mehrwert in die globale Wertschöpfungskette gelangt und sich für das Endprodukt als unerlässlich herausstellt, kommt man am Unternehmen, das das Produkt herstellt, nicht mehr vorbei. Es geht also darum, dieses Know-how zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Welchen Beitrag kann der Staat leisten, ohne Industriepolitik zu betreiben?

Das ist eine gute Frage. Es war immer die Stärke der Schweiz, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es der Industrie ermöglichen, sich selbst auf künftige Entwicklungen vorzubereiten. Diese Rahmenbedingungen umfassen den Schutz des geistigen Eigentums, Bildung, Forschung und Innovation und die Unterstützung der Universitäten und Hochschulen. Ich schliesse nicht aus, dass die öffentliche Hand Impulse setzt, aber der Staat darf keine Industriepolitik betreiben.

Finden Sie noch Zeit, den Landwirtschafts- und Weinbaubetrieb Ihrer Familie am Genfersee zu verfolgen?

Nicht wirklich, auch wenn ich natürlich in regelmässigem Kontakt mit meinem Bruder stehe. Dieses Jahr fand die Weizenernte zum ersten Mal statt, ohne dass ich auf dem Mähdrescher gewesen wäre. (lacht) An diesem Tag war ich stattdessen für die 1.-August-Feierlichkeiten in Villars-sur-Ollon. Aber: Es macht mir immer noch Freude, einen Tag an der Weinlese teilzunehmen, wenn sie auf ein Wochenende fällt.

Zitiervorschlag: Nicole Tesar, Thomas Nussbaum (2021). «Die Krise hat gezeigt: Die Digitalisierung muss an Tempo zulegen». Die Volkswirtschaft, 25. Oktober.

Guy Parmelin

Der aktuelle Bundespräsident Guy Parmelin ist seit 2019 Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung. In den Bundesrat gewählt wurde er im Dezember 2015. Von 2016 bis 2018 leitete er das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport. Der ausgebildete Meisterlandwirt und -weinbauer trat 1993 als Gemeindepräsident von Bursin VD in die Politik ein. Er ist Mitglied der SVP. Von 1994 bis 2003 vertrat er die Partei im Waadtländer Grossen Rat und von 2003 bis 2015 im Nationalrat.