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«Grünes BIP»: Aufstieg, Fall und Neuanfang

Im BIP sind Umweltaspekte zu wenig berücksichtigt – was schon länger für Kritik sorgt. Ein erster Versuch eines «grünen BIP» scheiterte in den Neunzigerjahren. Ein neuer Anlauf der UNO scheint nun aber vielversprechend.
Wie bewertet man Veränderungen am Naturvermögen ökonomisch? Amazonas-Regenwald. (Bild: Alamy)

Das Bruttoinlandprodukt (BIP) gibt es seit fast achtzig Jahren.[1] An der Konferenz von Bretton Woods 1944 einigte man sich auf das System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR), das auch das BIP enthält. Inzwischen wenden es praktisch alle UNO-Mitgliedsstaaten an. Gewisse Mängel waren dabei von Anfang an im BIP offenkundig: Zwar ermöglicht das BIP eine aussagekräftige Messung der Wirtschaftsleistung – fälschlicherweise wird es aber in der politischen Analyse oft als Mass für Wohlstand und Wohlfahrt verwendet. Dies ist problematisch, insbesondere wenn es um umweltökonomische Aspekte geht.

Einer der häufigsten Kritikpunkte beim BIP seit den 1970er-Jahren ist, dass es die Umweltzerstörung nicht berücksichtigt. Im Gegenteil: Das BIP behandelt den Raubbau an der Umwelt manchmal sogar als wirtschaftliche Leistung. Wird beispielsweise ein Regenwald abgeholzt und das Holz verkauft, steigt das BIP – obwohl dies verheerende Folgen für das langfristige Wohlergehen und das Wirtschaftswachstum hat. Im Jahr 1992 forderte die UNO-Konferenz von Rio de Janeiro deshalb, die VGR sei um eine Umwelt- und eine soziale Dimension zu erweitern.

Ein «grünes BIP»


Die Statistikerinnen und Statistiker der UNO folgten diesem Aufruf: 1993 präsentierten sie in einem Zwischenbericht das «System of Environmental-Economic Accounting» (SEEA) – eine neue Art der Rechnungslegung, die die wirtschaftliche Dimension der Umwelt anhand der Konzepte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung misst. Die natürlichen Ressourcen wurden im SEEA von 1993 monetär bewertet. Auf diese Weise konnte man die Kosten, die durch Umweltzerstörung entstehen, vom BIP abziehen. Das Handbuch enthielt auch einen Vorschlag für ein um Umweltaspekte bereinigtes BIP («grünes BIP»).

In der Folge begannen verschiedene Länder mit dieser neuen Art der Rechnungslegung zu experimentieren – darunter die USA, China, Norwegen, Australien, Kanada, Indonesien und Grossbritannien. Trotzdem vermochte sich das «grüne BIP» nicht durchzusetzen. Einige Länder, wie etwa Norwegen, waren der Meinung, dass die Methoden, die zur Bewertung der Umweltzerstörung und des Umweltverbrauchs verwendet wurden, zu experimentell und inkonsistent seien, da sie sich nicht auf Marktpreise stützten.[2] In den USA und China wiederum störte man sich daran, dass das «grüne BIP» aufgrund der Umweltabzüge deutlich unter dem herkömmlichen BIP lag. In den USA stoppte der Kongress diese Art der Rechnungslegung, wobei umweltpolitische Gründe vermutlich den Ausschlag gaben.[3] China hörte 2005 mit den Berechnungen eines «grünen BIP» ebenfalls auf, nachdem die tieferen BIP-Werte bei einigen lokalen und regionalen Behörden auf Widerstand gestossen waren und methodische Bedenken vorgebracht worden waren.[4]

Ein Paradigmenwechsel


Die Kritik am «grünen BIP» war nicht gänzlich unberechtigt. Politische Entscheidungen von einem einzigen Indikator abhängig zu machen, ist nicht ideal – egal wie gut dieser konzipiert ist. Die nächste SEEA-Version aus dem Jahr 2003 bot daher einen umfassenderen Rahmen. Das SEEA fusste nun auf einer soliden Grundlage von monetären und physischen Konten, zum Beispiel für Energie-, Wasser- und Materialflüsse sowie für Luftemissionen und Abfall. Ein «grünes BIP» galt inzwischen nicht mehr als das ultimative Ziel. Stattdessen bildet das «System of Environmental-Economic Accounting» nun eine Grundlage für ein kohärentes Indikatorensystem («Dashboard»-Ansatz). In diese Richtung zielt auch der von der französischen Regierung in Auftrag gegebene Stiglitz-Sen-Fitoussi-Bericht von 2008. Unter anderem schlägt er Kennzahlen zur Effizienz und Produktivität sowie zum «Naturvermögen» vor.[5]

Nebst der Abkehr vom «grünen BIP» gab es einen weiteren Paradigmenwechsel: Um nachhaltiges Wachstum zu messen, werden heute nebst Materialflussindikatoren – wie dem (grünen) BIP – vermehrt auch Bestandesgrössen eingesetzt. So betont beispielsweise der Dasgupta-Bericht «Ökonomie der Artenvielfalt» im Auftrag des britischen Finanzministeriums, der jüngst veröffentlicht wurde, Nachhaltigkeit hänge vom «Naturvermögen» und dessen Regenerierungsfähigkeit ab.[6] Ähnlich wie produziertes und menschliches Kapital Vermögen darstellt, von dem künftige Generationen abhängen, gilt dies demnach auch für die Natur und die Biodiversität.

Die jüngste SEEA-Version berücksichtigt diesen Paradigmenwechsel: Im Kern handelt es sich um einen systemischen Dashboard-Ansatz, der auch Kennzahlen zum Naturvermögen enthält. Inzwischen ist das «System der Umweltökonomischen Gesamtrechnung (SEEA) 2012 – Zentrale Rahmenrichtlinien» zu einer der VGR ebenbürtigen internationalen Statistiknorm geworden. Das System stellt eine Weiterentwicklung des SEEA-Rahmens von 2003 dar. Sogenannte physische und monetäre Konten, die auf dem Naturvermögen beziehungsweise den Materialflüssen basieren, bieten einen umfassenden Überblick darüber, wie nachhaltig wir die Umwelt und die natürlichen Ressourcen nutzen. Zurzeit erheben fast 90 Länder aus allen Weltregionen Statistiken nach diesen SEEA-Vorgaben. Darunter findet sich auch die Schweiz, die acht solche Umweltkonten erstellt.

Ein neues System


Der jüngste Ansatz des Statistikausschusses der UNO – das «SEEA Ecosystem Accounting» (SEEA-EA) – geht noch einen Schritt weiter und ist in verschiedener Hinsicht bahnbrechend. Wie im Dasgupta-Bericht empfohlen verfolgt das SEEA-EA einen kapitalorientierten Ansatz: Lebensnotwendige Ökosystemleistungen wie beispielsweise die Luftfilterung oder die Kohlenstoffspeicherung zählen als «Vermögen», das in physikalischen Masseinheiten (Menge und Zustand) ausgedrückt wird. Anhand dieser Umweltvermögen kann gemessen werden, wie stark die Zerstörung der Ökosysteme fortschreitet.

Das SEEA-EA ist mit dem System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kompatibel. Ökosystemleistungen können daher auch monetär ausgedrückt werden. So wird sichergestellt, dass die Statistik sowohl negative Umweltaspekte – wie etwa die Zerstörung von Ökosystemen oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen – als auch positive Aspekte – wie beispielsweise Ökosystemleistungen und Regenerierung – erfassen kann. Indem das SEEA-EA die Beiträge der Natur sichtbar macht, ermöglicht es der Politik, zwischen wirtschaftlichen Interessen und Interessen der Umwelt abzuwägen. Dies ist für optimierte Entscheide essenziell.

Aus dem SEEA-EA können zudem zahlreiche Indikatoren abgeleitet werden – was dem Dashboard-Trend entspricht. So können beispielsweise Indikatoren erstellt werden, welche die UNO-Nachhaltigkeitsziele (SDG) oder die Vorgaben des Global Biodiversity Framework messen. Gleichzeitig ermöglicht das SEEA-EA, die Idee eines «grünen BIP» wieder aufzunehmen, das sowohl negative als auch positive Umweltfaktoren umfasst.

Ein weiterer neuer Leitindikator, der derzeit getestet wird, ist das «Gross Ecosystem Product» (GEP). Das GEP erfasst nur die «positiven» Leistungen – sprich: die Summe der gesamten Ökosystemleistungen. Dies ermöglicht Vergleiche mit dem BIP. Eine chinesische Pilotstudie hat beispielsweise festgestellt, dass das GEP der Provinz Guangxi im Jahr 2017 rund der Hälfte des dortigen BIP entsprach.[7]

Zur rechten Zeit


Diesen Sommer wurden die USA und Kanada von Hitzewellen heimgesucht, bei denen Muscheln und andere Schalentiere an der Küste zugrunde gingen, weil sie regelrecht gekocht wurden. In Europa wiederum haben Waldbrände und Überschwemmungen grosse Schäden angerichtet, und im einst üppigen Madagaskar löste eine akute Dürre eine Hungersnot für Hunderttausende von Menschen aus.

Mit anderen Worten: Der Klimawandel schreitet fort, und die Biodiversität nimmt ab. Die politischen Entscheidungsträger brauchen deshalb dringend eine Methode für eine evidenzbasierte Politik in Sachen Klima und Biodiversität, die das Wirtschaftswachstum nicht gefährdet. Die Einführung des SEEA-EA erfolgt somit genau zum richtigen Zeitpunkt.

  1. Die hier geäusserten Meinungen entsprechen den Ansichten der Verfasser und decken sich nicht zwangsläufig mit den Auffassungen der Vereinten Nationen. []
  2. Alfsen et al. (2003). []
  3. Cavanagh et al. (2001). []
  4. Li und Lang (2009). []
  5. Stiglitz et al. (2008). []
  6. Dasgupta (2021). []
  7. Nationales Statistikamt Chinas (2021). []

Literaturverzeichnis

Bibliographie

Zitiervorschlag: Stefan Schweinfest, Alessandra Alfieri, Jessica Ying Chan, Bram Edens, (2021). «Grünes BIP»: Aufstieg, Fall und Neuanfang. Die Volkswirtschaft, 04. Oktober.