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Aufschwung mit Gegenwind

Aufschwung mit Gegenwind

«Derzeit besteht wenig Hoffnung auf ein schnelles Abklingen der Inflation.» (Bild: Keystone)

Wie sich die Weltwirtschaft entwickeln wird, ist zurzeit schwierig zu beantworten. Denn die unmittelbare, pandemiebedingte Wirtschaftskrise mag zwar vorüber sein, doch die Post-Corona-Situation stellt die politischen Entscheidungsträger vor zahlreiche Herausforderungen. So verlangsamt sich das globale Wirtschaftswachstum, und der Kampf gegen das Coronavirus ist noch lange nicht gewonnen. Trotz der Ungewissheit möchten viele Zentralbanken die ultralockere Geldpolitik beenden. Immerhin hat sich die Wirtschaftslage vieler Länder erholt, und die Beschäftigung ist bedeutend besser als zu Beginn des letzten Jahres befürchtet. Gleichzeitig steigt die Inflation weiter an. Versorgungsengpässe in der Produktion, der Logistik und auf dem Arbeitsmarkt treiben die Preise unweigerlich in die Höhe. Derzeit besteht wenig Hoffnung auf ein schnelles Abklingen. In Europa könnte der jüngste Anstieg der Grosshandelspreise für Erdgas sogar eine weitere Inflationswelle in der ersten Jahreshälfte 2022 auslösen.

Teilweise sind diese Preisanstiege wohl vorübergehend – so werden Gebrauchtwagenpreise und der «Wiederöffnungseffekt» im Gastgewerbe in den nächsten zwei Jahren wahrscheinlich an Einfluss verlieren. Aber es gibt zahlreiche andere Gründe, weshalb eine hohe Inflation mittelfristig eine grössere Gefahr darstellen könnte als bisher. Erstens: Je länger sie auf hohem Niveau bleibt, desto grösser ist das Risiko einer Lohnreaktion, vor allem wenn Engpässe und Missverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt fortbestehen. Zweitens können sich Zentralbanken nicht mehr vorrangig darauf konzentrieren, für Preisstabilität zu sorgen, sondern müssen sich auch um Wachstum, Beschäftigung, Finanzstabilität und sogar Klimawandel kümmern, was das Risiko von Zielkonflikten und somit geldpolitischen Fehlern erhöht. Drittens stellen Rückschritte der Globalisierung – beispielsweise die sich verschlechternden Beziehungen zwischen China und dem Westen sowie die pandemiebedingten grenzüberschreitenden Beschränkungen – Risiken für Preissteigerungen dar.

Auch deflationäre Tendenzen


Dennoch: Ein Heisslaufen der Inflation über längere Zeit wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren ist äusserst unwahrscheinlich. Denn einige Faktoren wirken nach wie vor stark deflationär, vor allem die Automatisierung und die Robotik, die rasch und zunehmend im Dienstleistungssektor Einzug halten. Zudem sind die heutigen Arbeitsmärkte viel flexibler und weniger gewerkschaftlich organisiert als in den Sechziger- und Siebzigerjahren, und dank Unternehmen wie Amazon und Alibaba herrscht heute viel mehr Preistransparenz.

Trotzdem ist eine Rückkehr zu einer strukturell niedrigen Inflation nicht selbstverständlich. Deshalb ändern die Zentralbanken trotz weltweit immer noch hoher Corona-Fallzahlen ihre Geldpolitik. Im September hob die norwegische Zentralbank als erste G-10-Währungsbehörde ihren Leitzins an. Andere, darunter die Bank of England, dürften Anfang 2022 folgen, während die übrigen Zentralbanken ihre Programme zum Ankauf von Vermögenswerten verlangsamen (und schliesslich einstellen). In Anbetracht der weiterhin beispiellosen Umstände wird es für die Notenbanken schwierig sein, ihre enormen Stützmassnahmen zurückzufahren, ohne die Finanzmärkte zu stören.

Zitiervorschlag: Janet Henry (2021). Aufschwung mit Gegenwind. Die Volkswirtschaft, 29. November.