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Im Alter fehlt es an psychosozialer Betreuung

Spitalaufenthalte und zu frühe Heimeintritte von älteren Menschen verursachen in der Schweiz Kosten in Millionenhöhe. Mit einer guten Betreuung liessen sich diese reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. Eine Studie zeigt, wie gute Betreuung für alle zugänglich wird.
Eine Spitex-Angestellte begleitet eine Klientin und deren Hund beim Einkaufen. (Bild: Keystone)

Die 80-jährige Witwe B. lebt allein zu Hause. Aufgrund diverser Erkrankungen wie multifaktorieller Gangstörung, Prädiabetes und Lungenembolien ist sie motorisch und auch bei der Atmung eingeschränkt. Die Spitex wendet pro Tag 50 Minuten für Pflege auf, deren Kosten die Krankenkasse übernimmt, sowie 3 Stunden Haushaltshilfe pro Woche. Sohn und Tochter nehmen ihr vor allem administrative Aufgaben ab. Für die psychosoziale Betreuung – etwa Gespräche, die Begleitung auf kurzen Spaziergängen oder mehr Koordination mit dem Hausarzt – kommt niemand auf.

Frau Y. wiederum hat keine Angehörigen und lebt seit zwei Monaten in einem Pflegeheim. Sie ist mobil, aber leicht desorientiert. Aktuell benötigt sie täglich rund 120 Pflegeminuten. Frau Y kann sich nur unter Anleitung selber waschen, Mahlzeiten müssen stets vorbesprochen werden, zudem möchte sie regelmässig für Besorgungen in die Stadt gehen – alles Aktivitäten, die nebst den pflegerischen Leistungen von rund 1 bis 2 Stunden pro Tag nochmals das Doppelte für eine optimale Betreuung bedingen würden.

Die beiden Beispiele stammen aus einer Studie des Beratungs- und Forschungsunternehmens BSS Volkswirtschaftliche Beratung, welche im September 2021 anhand von Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) sowie anhand von Expertenbefragungen veröffentlicht wurde.[1] Auftraggeber der Studie war die Paul-Schiller-Stiftung, die sich seit mehreren Jahren mit der Betreuung im Alter befasst.

20 Millionen Stunden

Während für die medizinisch orientierte Pflege die Krankenkassen aufkommen, besteht eine grosse Lücke bei der Betreuung älterer Menschen, bei der es um psychosoziale Aspekte geht: Gemäss der Studie erhalten in der Schweiz potenziell mehr als 620’000 Menschen über 65 Jahren – zu Hause und in Heimen – nicht die erforderliche Unterstützung. Insgesamt fehlen bis zu 20 Millionen Betreuungsstunden pro Jahr. Dies entspricht einem Gegenwert von 0,8 bis 1,6 Milliarden Franken. Die Betreuung von älteren Menschen ist heute weitgehend Privatsache. Wer auf Unterstützung angewiesen ist, finanziert sie entweder aus dem eigenen Portemonnaie – oder er muss ohne sie klarkommen.

Weshalb gibt es einen derart grossen Betreuungsbedarf? Als einen der Gründe machen frühere Studien den sozialen Wandel aus: Angehörige sind immer weniger in der Lage, Betreuungsaufgaben zu übernehmen. Einerseits, weil Familien weniger, spät oder keine Kinder mehr haben. Andererseits spielen auch die Individualisierung und die zunehmende geografische Distanz zwischen Angehörigen eine wichtige Rolle. Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren: Bislang wird ein Grossteil der Betreuung durch weibliche Angehörige geleistet. Doch weil die Erwerbsquote der Frauen steigt, bleibt diesen immer weniger Zeit für Betreuungsaufgaben.

Aus den Experteninterviews geht hervor, dass im stationären Bereich der Mangel an sozialer Betreuungszeit schätzungsweise 50 bis 70 Minuten pro Person und Tag beträgt, im ambulanten Bereich sind es zwischen 8 und 30 Minuten. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird der Betreuungsbedarf weiter anwachsen: 2050 werden gemäss Bundesamt für Statistik 1,1 Millionen über 80-Jährige in der Schweiz leben – das sind doppelt so viele wie heute.

Wie finanzieren?

Um die Betreuungsangebote zu finanzieren, sind gemäss der Studie fünf Varianten denkbar. Eine Möglichkeit wäre es, diese Angebote über Ergänzungsleistungen abzugelten: Damit werden zwar zielgenau finanziell schlechtergestellte Menschen erreicht. Doch dies bedingt eine Vorfinanzierung der Leistungen durch die betreuten Personen und vermag die untere Mittelschicht nicht zu entlasten.

Zweitens ist eine Anlehnung an die Hilflosenentschädigung denkbar. Dies ermöglicht eine hohe Selbstbestimmung im Alter und verursacht wenig Bürokratie, aber es fehlen Steuerungsmöglichkeiten für den zielgenauen Einsatz der Mittel.

Eine dritte Variante sind Betreuungsgutsprachen: Diese gewährleisten eine gewisse Selbstbestimmung und Qualitätssicherung, verursachen aber hohe Eintrittshürden und Administrativkosten.

Viertens kommt eine Anstossfinanzierung durch den Bund – und eine weiterführende Finanzierung durch die Kantone – infrage. Diese Variante hätte den Vorteil, dass das Angebot qualitativ gut ausgebaut würde, allerdings wäre die Finanzierung langfristig nicht gesichert.

Option Betreuungsgeld

All diese Varianten weisen – neben verschiedenen Stärken – auch substanzielle Schwachpunkte auf. Deshalb wurde im Rahmen der Studie eine fünfte Variante erarbeitet. Sie setzt auf ein sogenanntes Betreuungsgeld. Dieses Betreuungsgeldmodell ist unabhängig von der Wohnform anwendbar, und finanziert werden die Leistungen durch Bund, Kantone und Gemeinden.

Das Betreuungsgeldmodell enthält einerseits ein «subjektorientiertes» Element. Sprich: Personen mit einem Betreuungsbedarf bezahlen für das ihnen zugesprochene Stundenkontingent einen reduzierten Preis. Die Subventionierung erfolgt durch die Kantone und Gemeinden. Die Empfänger leisten einen Eigenbeitrag, wobei der Kanton die Höhe des Eigenbeitrags festlegt. Ziel ist eine finanzielle Entlastung der Mittelschicht, um den Zugang im Vergleich zu heute zu verbessern. Wenn eine Person die reduzierten Preise nicht bezahlen kann, werden diese von den Ergänzungsleistungen zur AHV übernommen.

Andererseits enthält das Modell ein «objektorientiertes Element»: Es werden Projekte zur Qualitätsentwicklung und -sicherung gefördert sowie spezifische Angebote unterstützt, die aufsuchend erfolgen und niederschwellig ausgestaltet sind. Auch die Kosten zur Bedarfsabklärung werden vom Bund übernommen, um einheitliche Qualitätsstandards und Abläufe sicherzustellen.

Angehörige entlasten

Unabhängig vom gewählten Finanzierungsmodell lässt sich abschliessend sagen: Sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich gibt es eine Finanzierungslücke und damit verbunden einen ungedeckten Betreuungsbedarf. Wenn es gelingt, diese Lücke zu schliessen und ältere Menschen mit psychosozialer Betreuung zu unterstützen, kann man davon ausgehen, dass dies einen hohen präventiven Wert hat: Kompetenzen werden gestärkt, notfallmässige Spitaleintritte verhindert und Heimeintritte verzögert.

Aus volkswirtschaftlicher Sicht wichtig ist auch der Aspekt der Entlastung der betreuenden Angehörigen durch gute, zugängliche Betreuungsangebote. Nachdem in den vergangenen Jahren die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf von der Politik adressiert worden ist, wird in den kommenden Jahren die Frage in den Fokus rücken, wie sich der Beruf und die Betreuung von Eltern und Schwiegereltern vereinbaren lassen und wie der Staat hierzu einen Beitrag leisten kann.

  1. BSS Volkswirtschaftliche Beratung (2021); BFS-Daten: Schweizerische Gesundheitsbefragung, Spitex- und SOMED-Statistik. []

Literaturverzeichnis

BSS Volkswirtschaftliche Beratung (2021). Kosten und Finanzierung für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Studie im Auftrag der Paul Schiller Stiftung, 23. August. Fachliche Begleitung: Carlo Knöpfel.


Bibliographie

BSS Volkswirtschaftliche Beratung (2021). Kosten und Finanzierung für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Studie im Auftrag der Paul Schiller Stiftung, 23. August. Fachliche Begleitung: Carlo Knöpfel.

Zitiervorschlag: Wolfram Kägi, Carlo Knöpfel, Miriam Wetter (2021). Im Alter fehlt es an psychosozialer Betreuung. Die Volkswirtschaft, 29. November.