Suche

Abo

Die Pharmaindustrie ist der wichtigste Wachstumsmotor der Schweiz. Damit das so bleibt, muss sich die Schweiz auch in Zukunft um attraktive Rahmenbedingungen für einen konkurrenzfähigen Pharmastandort bemühen. Dazu gehören insbesondere stabile Beziehungen zur Europäischen Union und Investitionen in ein vernetztes Gesundheitsdatenökosystem.
René P. Buholzer, Dr. rer. publ., Geschäftsführer, Interpharma, Basel

Standpunkt

Die aktuelle Gesundheitskrise hat erneut in Erinnerung gerufen, welche zentrale Bedeutung die forschende pharmazeutische Industrie für die öffentliche Gesundheit hat: Die Pharmaindustrie hat sich in der Gesundheitskrise als Schlüsselindustrie erwiesen – indem sie in Rekordtempo Tests, Impfstoffe und Arzneimittel entwickelt und in grossen Mengen zur Verfügung gestellt hat.

In volkswirtschaftlicher Hinsicht entpuppte sich die Pharmaindustrie in der Pandemie als verlässliche Wachstumslokomotive und Stütze der Schweizer Wirtschaft, von der immer mehr Branchen und Beschäftigte abhängen. Attraktive innenpolitische Rahmenbedingungen in der Schweiz haben eine beeindruckende Entwicklung der forschenden Pharmaindustrie seit 1996 begünstigt. Hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung und eine konsequente strategische Ausrichtung auf innovative Technologien waren zentrale Erfolgsfaktoren. Zudem begünstigten strukturelle Wachstumstreiber wie die demografische Entwicklung und die wachsende Mittelschicht in Schwellenländern das Wachstum. Verbesserte aussenwirtschaftliche Rahmenbedingungen (zum Beispiel der Abschluss der bilateralen Verträge mit der EU) sowie die Ansiedlung neuer Unternehmen sorgten für zusätzliche Dynamik – mit bemerkenswerten Ergebnissen: Die Beschäftigung in der Pharmaindustrie liegt heute mit rund 47’000 Mitarbeitenden rund 2,4 Mal so hoch wie 1996.

In den vergangenen zehn Jahren ging mehr als ein Drittel des Schweizer Wirtschaftswachstums auf das Konto der Pharmaindustrie. Mit Exporterlösen von rund 99 Milliarden Franken baute die Pharmaindustrie ihre Stellung als wichtigste Exportbranche weiter aus. Die in der Schweiz erzielte Bruttowertschöpfung lag 2020 bei fast 37 Milliarden Franken, was einem Anteil von 5,4 Prozent an der gesamten Schweizer Wirtschaftsleistung entspricht.

Vom Erfolg der Pharmaunternehmen profitieren – in steigendem Ausmass – auch andere Sektoren. Jeder Franken Wertschöpfung in der Pharmaindustrie löst 70 Rappen Wertschöpfung in anderen Branchen aus. Von 1000 Franken Lohn in der Pharmaindustrie hingen 2020 durchschnittlich rund 2600 Franken Lohneinkommen in branchenfremden Unternehmen ab.

Erfolg ist gefährdet

Die Entwicklung der Pharmaindustrie in der Schweiz ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte – was diese paradoxerweise gerade deshalb als gefährdet erscheinen lässt. Denn der stolze Blick auf die Errungenschaften genügt nicht, um den Wohlstand für die Zukunft zu sichern. Die ungesunde Kombination aus innerem Reformstillstand und instabilen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entwickelt sich zu einer Gefahr für den Wohlstand und den Zugang zu Medikamenten in der Schweiz.

Denn eine Gesellschaft, die sich neuen Entwicklungen verschliesst, verpasst nicht nur Chancen für Verbesserungen, sondern sie fällt unweigerlich zurück, wie das Beispiel der Digitalisierung zeigt: In einer zunehmend digitalisierten Welt ist der weltweite Zugang zu hochwertigen Gesundheitsdaten ein zentraler Erfolgsfaktor für erfolgreiche Behandlungen und den Innovationsstandort. Während Länder wie Finnland, Israel oder Grossbritannien die Chancen der Digitalisierung im Gesundheitssystem erkannt haben, liegt die Schweiz im internationalen Vergleich abgeschlagen auf den hinteren Rängen. Um den Rückstand aufzuholen, muss die Gesundheitspolitik dringend in den Aufbau eines vernetzten Gesundheitsdatenökosystems investieren und einen kohärenten Masterplan entwickeln.

Überlebenswichtige EU

Die Schweiz hat sich lange auf ihren Lorbeeren ausgeruht und dabei im internationalen Vergleich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst. Auch Monate nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der Europäischen Union ist die künftige Europapolitik ungewiss. Für den Schweizer Pharmastandort und mit ihm die Schweizer Wirtschaft sind stabile, vertraglich geregelte und zukunftsfähige Beziehungen mit der EU jedoch überlebenswichtig. Dies zeigt das Beispiel der gegenseitigen Anerkennung von technischen Vorschriften und Prüfverfahren (Konformitätsbewertungen) zwischen der EU und der Schweiz. Mit rund 48 Milliarden Franken stammten 2020 nach wie vor 46 Prozent der Exporterlöse aus europäischen Ländern.

Für die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Forschungs- und Innovationsstandorts und die stark innovationsgetriebenen Schweizer Unternehmen ist der möglichst umfassende Zugang zu den europäischen Forschungsprogrammen essenziell. Ein erstklassiger Forschungsplatz wiederum ist strategisch von zentraler Bedeutung für den innovationsbasierten Wirtschaftsstandort Schweiz und die Pharmabranche als Schlüsselindustrie des Landes.

Stillstand ohne Grenzgänger

Nicht zuletzt braucht die Pharmaindustrie den ungehinderten Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt. Mehr als jeder fünfte Beschäftigte pendelt als Grenzgänger zur Arbeit. In der Nordwestschweiz ist es sogar jeder Dritte. Von den in der Schweiz wohnhaften Beschäftigten der Pharmaindustrie haben 44 Prozent eine ausländische Nationalität, bei Erwerbstätigen mit Hochschulabschluss sind es gar 62 Prozent.

Politisch gilt es nun die Chancen der aktuellen Herausforderungen zu erkennen: Wir müssen den durch die Pandemie ausgelösten Handlungsdruck als kraftvollen Katalysator für unternehmerischen und gesellschaftlichen Wandel nutzen, um eingefahrene Denkmuster zu durchbrechen und um den politischen Reformstau zu überwinden. Dies gilt sowohl für die Schaffung von zukunftsfähigen Rahmenbedingungen für den Forschungs- und Produktionsstandort wie auch für die Sicherstellung eines breiten, sicheren und schnelleren Zugangs zu innovativen Medikamenten und Therapien für alle Schweizer Patientinnen und Patienten.

Zitiervorschlag: René P. Buholzer (2021). Standpunkt: Krise als Chance nutzen. Die Volkswirtschaft, 29. November.