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Neue Medikamente: Tempo vor Gewissheit?

Die immer schnellere Entwicklung von neuen Medikamenten stellt alle beteiligten Akteure vor Herausforderungen: Während die Behörden rasch zwischen Wirksamkeit und Kosten abwägen müssen, hat die Industrie den Nutzen ihrer Produkte für das Gesundheitssystem zu belegen.
Janet Woodcock, Leiterin der US-Arzneimittelbehörde FDA. (Bild: Alamy)

Arzneimittel sind eine zentrale Säule moderner Gesundheitssysteme: Nach den stationären und ambulanten Leistungen bilden sie den drittgrössten Kostenblock im Gesundheitswesen. Im Jahr 2023 wird der globale Pharmamarkt gemäss Schätzungen über 1,5 Billionen Dollar Umsatz generieren.[1] Zur Grösseneinordung: Für das Jahr 2018 schätzte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die globalen Gesundheitsausgaben auf 8,3 Billionen Dollar.[2]

Auch die pharmazeutische Forschung und Entwicklung (F&E) läuft auf Hochtouren: Zwischen 2010 und 2020 hat die US-Arzneimittelbehörde FDA durchschnittlich 43 neue Medikamente pro Jahr zugelassen.[3] In der Schweiz waren es zwischen 2002 und 2020 durchschnittlich 31 (siehe Abbildung 1). Dass so viele neue Pharmaprodukte auf den Markt kommen, entspricht dem Wunsch der Bevölkerung, der Politik und der Industrie: Potenziell bahnbrechende Therapien sollen so rasch als möglich verfügbar sein.

Abb. 1: Jährliche Zulassungen neuer Medikamente in der Schweiz (2002–2020)

 

Quelle: Swissmedic / Die Volkswirtschaft

Die immer schnellere Entwicklung neuartiger Arzneimittel ist jedoch für Regierungen – und auch für die Hersteller – eine Herausforderung. So herrschen zum Zeitpunkt der Markteinführung manchmal beträchtliche Ungewissheiten über den therapeutischen Nutzen eines neuen Medikaments: Um eine raschere Markteinführung für vielversprechende Behandlungen, zu denen es keine Alternativtherapien gibt, zu ermöglichen, haben viele Heilmittelbehörden das Zulassungsverfahren beschleunigt. Dies ist insbesondere bei neuen Krebsmedikamenten der Fall. Diese Präparate werden beispielsweise in einem früheren Entwicklungsstadium oder auf der Grundlage von Ersatzkriterien – etwa indirekte Messungen, die klinisch relevante Ergebnisse wie Überleben oder verbesserte Lebensqualität vorhersagen sollen – zugelassen.

Einige Entscheidungen basieren zudem nicht wie üblich auf randomisierten Studien. Und selbst wenn die Präparate ordentliche Zulassungsverfahren durchlaufen, sind die Erkenntnisse aus den kontrollierten randomisierten Studien nicht immer auf breitere Patientengruppen übertragbar, da in diesen Studien beispielsweise sehr alte und sehr junge Menschen oder Personen mit Mehrfacherkrankungen oft nicht vertreten sind.

Zwei Hauptprobleme

Aus Sicht der Kostenträger und von Behörden, die neue Behandlungen mittels «Health Technology Assessments» (HTA) prüfen, stellen sich zwei Hauptprobleme: Erstens gilt es zu bestimmen, ob eine neue Behandlung einen signifikanten Fortschritt gegenüber bestehenden therapeutischen Alternativen darstellt – wobei es diesen Zusatznutzen anschliessend monetär zu beziffern gilt. Der klinische Zusatznutzen im Sinne von Wirksamkeit, die Kosteneffizienz sowie die finanziellen Auswirkungen anhand von limitierten klinischen Studien zu bestimmen, ist allerdings mit Ungewissheit verbunden. Zweitens, in Kombination mit dem Trend von steigenden Preisen neuer Medikamente ist es für die Behörden schwierig, zuverlässige Entscheidungen zur Kostenübernahme und zur Preisgestaltung zu treffen und die daraus resultierenden Gesundheitsausgaben richtig vorherzusehen.

Selbst für Pharmaunternehmen sind schnellere Zulassungen ein zweischneidiges Schwert: Je schlechter die Datenlage zu einem neuen Medikament, desto schwieriger ist es, Kostenträger und HTA-Behörden zu überzeugen, ein Medikament in den Leistungskatalog aufzunehmen – und sich auf einen akzeptablen Preis zu einigen. Ein Markt für ein neues Arzneimittel entsteht vielfach erst, wenn dieses in den Leistungskatalog eines Landes, einer Region oder einer Institution aufgenommen wurde.[4]

Schlechte Datenlage

Einige Länder knüpfen ihre Vergütungen an Auflagen.[5] Diese sogenannten Managed Entry Agreements (MEA) zwischen Kostenträgern und der Pharmaindustrie ermöglichen es, neue Medikamente zu vergüten und gleichzeitig die Unsicherheiten über die finanziellen Auswirkungen oder die klinische Wirksamkeit zu mindern (siehe Abbildung 2). Meistens liegt der Fokus der Behörden jedoch auf finanziellen Überlegungen und weniger auf der Beseitigung von Ungewissheit über den therapeutischen Nutzen. In über zwei Dritteln der EU-und OECD-Mitgliedsstaaten sind rein finanzielle Manged Entry Agreements in Verwendung.

Abb. 2. Preisgestaltungsstrategien in OECD-Staaten (2019)

Anmerkung: Die Grafik basiert auf den Antworten von 24 Ländern auf eine OECD-Befragung zu den Herausforderungen beim Zugang zu Krebsmedikamenten. Mehrfachantworten waren erlaubt.

Quelle: Chapman et al. (2020) / Die Volkswirtschaft

Etwas weniger verbreitet sind behandlungserfolgsabhängige Manged Entry Agreements: Hier ist die Kostenübernahme (beziehungsweise die Zahlung an oder die Rückvergütung von Unternehmen) direkt an den Behandlungserfolg gekoppelt.[6] Ein Beispiel ist die erfolgsabhängige Vergütung auf Patientenebene («Payment by Result»), bei der den Herstellern eine Behandlung nur vergütet wird, wenn der Patient darauf anspricht: Sie kann die Kosteneffizienz verbessern und dazu beitragen, dass die Kostenträger die finanziellen Auswirkungen besser steuern können. Andere erfolgsabhängige Modelle orientieren sich nicht am Erfolg einzelner Patienten, sondern haben zum Ziel, Ungewissheit über Zusatznutzen und Kosteneffizienz anhand aggregierter Gesundheitsdaten zu mindern  («Coverage-with-Evidence-Development»).

Zu den Ländern, die solche erfolgsabhängige Manged Entry Agreements eingeführt haben, gehören Italien, Estland, Südkorea und das Vereinigte Königreich – wobei Italien über am meisten Erfahrung verfügt. Allerdings ist es schwierig, die Ergebnisse dieser erfolgsabhängigen Manged Entry Agreements abzuschätzen, da bisher nur wenige Länder offizielle Evaluationen durchgeführt haben. Aufgrund der Vertraulichkeit der Vergütungsvereinbarungen können zudem kaum unabhängige Untersuchungen gemacht werden. Doch bereits die wenigen verfügbaren Daten lassen vermuten, dass Coverage-with-Evidence-Development-Modelle die Ungewissheit über den Nutzen auch nicht ausreichend beseitigen können. Ihre Anwendung nimmt daher ab.

Weiterhin sehr verbreitet sind hingegen Payment-by-Result-Modelle. Allerdings lassen sich daraus nicht zwingend verlässliche Nachweise zum allgemeinen Nutzen einer Therapie ableiten, da die zum Auslösen der Zahlungen verwendeten Daten nicht immer entsprechend aggregiert und analysiert werden. Die Umsetzung solcher Vergütungsvereinbarungen und das Sammeln und Analysieren von Daten über die Effektivität von Arzneimitteln können überdies einen erheblichen administrativen Mehraufwand verursachen. Ein harmonisiertes Vorgehen zwischen mehreren Ländern und eine zielgerechtere Gestaltung dieser Vergütungsentscheide mit Auflagen könnten hier zielführend sein.

Daten aus der Praxis

Andere Ansätze umfassen die Verwendung von Daten aus dem medizinischen Alltag. Viele OECD- und EU-Länder nutzen solche «Real World»-Daten, die unter anderem aus elektronischen Patientendossiers stammen, um Daten aus klinischen Studien zu ergänzen und Ungewissheiten zur klinischen Wirksamkeit und zur Kosteneffizienz auszuräumen.[7] Italien etwa prüft anhand von landesweiten Registern, ob Arzneimittel korrekt verwendet und ob die Finanzauflagen von Vereinbarungen mit den Herstellern erfüllt werden. Zusätzlich lassen sich aus diesen Daten Informationen zu Behandlungsdauer und Wirkung der Medikamente gewinnen.[8]

Um die Unsicherheiten bei der Zulassung zu reduzieren, verlangen einige Staaten, dass die Markteinführung eines Medikaments von einer Studie begleitet wird. In Deutschland kann die HTA-Behörde aufgrund neuer Rechtsvorschriften von einem pharmazeutischen Unternehmen beispielsweise verlangen, dass es Daten aus dem medizinischen Alltag vorlegt, um diese ex post in die Nutzenbewertung einfliessen zu lassen.[9] Dies ist jedoch nur bei Medikamenten möglich, die mit Auflagen oder Sonderbewilligung zugelassen wurden, sowie bei Medikamenten für seltene Krankheiten.

Stärkere Zusammenarbeit

Eine weitere Möglichkeit, den Herausforderungen medizinischer und wirtschaftlicher Ungewissheiten bei neuen Medikamenten entgegenzutreten, wäre eine engere internationale Zusammenarbeit. Dies geht aus einer Umfrage zur Zulassung von Krebsmedikamenten in OECD-Ländern hervor.[10] Allerdings äusserten die Befragten auch Bedenken zur praktischen Durchführbarkeit des Informationsaustausches und zur Übertragbarkeit nationaler Daten auf andere Bevölkerungsgruppen und Gesundheitssysteme.

Bereits heute gibt es grenzüberschreitende Kooperationen.[11] Jüngst hat beispielsweise «Beneluxa» – ein Zusammenschluss der Beneluxstaaten sowie von Österreich und Irland – die erste Preisverhandlung abgeschlossen. Die im Jahr 2015 von Belgien und den Niederlanden lancierte Initiative will den langfristigen Zugang zu innovativen Behandlungen fördern. Die Länder arbeiten bei der Planung durch «Horizon Scanning», bei Health Technology Assessments und bei den Preis- und Vergütungsverhandlungen zusammen.

Weitere Beispiele für Länderkooperationen in Europa sind das «Nordic Pharmaceutical Forum» sowie die «Baltic Procurement Initiative». Beide haben bereits gemeinsame Ausschreibungsverfahren für Arzneimittel und Impfstoffe durchgeführt. Noch stehen diese Kooperationen aber am Anfang – ihr volles Potenzial werden sie erst entfalten, wenn mehr Erfahrungen vorhanden sind.

Nebst einer stärkeren internationalen Kooperation sollte die Zusammenarbeit zwischen Zulassungsbehörden, HTA-Behörden und Kostenträgern verbessert sowie der gemeinsame Austausch dieser Akteure mit der Pharmaindustrie gestärkt werden. Dies könnte der Pharmaindustrie helfen, ihre Forschungs- und Entwicklungsprogramme auf Nachweise auszurichten, die sowohl für die Zulassungsbehörden als auch für die Kostenträger relevant sind. Denn während sich klinische Versuche häufig in erster Linie an den Bedürfnissen der Zulasser orientieren, stützen sich Health Technology Assessments bei der Beurteilung des Nutzens einer Behandlung tendenziell eher auf Ergebnisse zur Lebensqualität und weitere von den Patienten beurteilte Ergebnisse. Eine engere und frühere Zusammenarbeit könnte daher zu sicheren Entscheidungen und für alle Beteiligten befriedigenderen Ergebnissen führen.

  1. Miglierini (2019). []
  2. WHO (2020). []
  3. OECD (2021). []
  4. Ein Leistungskatalog ist eine Liste von Arzneimitteln, die durch eine Krankenversicherung gedeckt sind oder in einem Gesundheitssystem oder einem Spital verschrieben werden können. []
  5. Für eine Beurteilung der Managed Entry Agreements siehe auch Beitrag von Thomas Christen und Jörg Indermitte (BAG) in dieser Ausgabe. []
  6. Wenzl und Chapman (2019). []
  7. OECD (2020). []
  8. Montilla et al. (2015). []
  9. Deutsches Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung, § 35a (3b). []
  10. Chapman et al. (2020). []
  11. Vogler et al. (2021). []

Literaturverzeichnis

 

 

 

 

 

 

 

 


Bibliographie

 

 

 

 

 

 

 

 

Zitiervorschlag: Ruth Lopert, Francesca Colombo (2021). Neue Medikamente: Tempo vor Gewissheit. Die Volkswirtschaft, 29. November.