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Pharmaforschung: Nachholbedarf bei der Digitalisierung in der Schweiz

Künstliche Intelligenz und digitale Simulationen werden in der Pharmaforschung immer wichtiger. Der Forschungsplatz Schweiz wäre auf digitale Gesundheitsdaten angewiesen – findet diese hierzulande aber nicht.
Wearables wie Smartwatches liefern Gesundheitsdaten in grossem Stil. Läuferinnen im britischen Portsmouth. (Bild: Alamy)

Der Pharma-Forschungsstandort Schweiz zählt international zur Spitze und verzeichnete in den vergangenen 20 Jahren ein kräftiges Wachstum. Ein Indiz für die Innovationskraft ist die Zahl der Patente: Im Jahr 2018 gab es in der Schweiz gemäss einer Studie des Forschungs- und Beratungsinstituts BAK Economics im Auftrag des Branchenverbands Interpharma über 6600 aktive Patente der Sparte Biotech und Pharma.[1]  Das sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2000.

Jedes siebte Schweizer Biotech-/Pharmapatent gehört im jeweiligen Technologiefeld weltweit zu den besten 10 Prozent der relevantesten Entwicklungen. In keinem anderen Land ist die Quote an solchen «Weltklassepatenten» so hoch. Bei rund 5 Prozent aller «Weltklassepatente sind Forschende aus der Schweiz beteiligt.

KI hält Einzug

In den nächsten Jahren wird die Digitalisierung die Forschung der Lifesciences stark verändern. Digitale Technologien eröffnen neue Chancen bei der Diagnose von Krankheiten, bei der Erforschung von Wirkstoffen, bei der Entwicklung von Medikamenten oder bei personalisierten Therapien. So werden beispielsweise aufwendige Computersimulationen eingesetzt, um die Entdeckung von geeigneten Molekülen zu beschleunigen, und auch Anwendungen der künstlichen Intelligenz kommen verstärkt zum Einsatz, um potenzielle neue Wirkstoffe zu identifizieren und die Erfolgsrate in der Arzneimittelforschung zu erhöhen.

Gegenwärtig liegt der Anteil der Patente mit digitalen Elementen in der gesamten Lifesciences-Forschung international zwar noch im niedrigen einstelligen Prozentbereich, sie werden in den kommenden Jahren jedoch deutlich an Bedeutung gewinnen. Entsprechend wird die künftige Stellung im Innovationswettbewerb zunehmend davon abhängen, wie erfolgreich man die Chancen der Digitalisierung nutzen kann.

Der Forschungsplatz Schweiz hat bei der Digitalisierung Aufholpotenzial. Beim Einsatz von digitalen Technologien sind Standorte wie die Regionen San Francisco, Boston und Tokio sowie Singapur besser positioniert als die Schweiz: Während die Biotech-/Pharmapatente mit digitalen Elementen in der Schweiz im Jahr 2018 auf einen Anteil von 2,4 Prozent kamen, waren es in der San Francisco Bay Area 6,5 Prozent (siehe Abbildung). Mit einer Wachstumsrate von 41 Prozent im Zeitraum 2010 bis 2018 bei den Patenten mit digitalen Elementen stellt die Schweiz sogar das Schlusslicht unter den analysierten Top-Lifesciences-Standorten dar. Zum Vergleich: Beim Spitzenreiter Seoul legten die Patente mit einem digitalen Bezug um 254 Prozent zu.

Biotech-/Pharmapatente mit digitalen Elementen an führenden Standorten (2010 und 2018)

Quelle: BAK Economics, IGE, PatentSight / Die Volkswirtschaft

Betrachtet man nur die Biotech-/Pharmapatente, die auf KI-Methoden wie Machine-Learning setzen, ergibt sich ein ähnliches Bild. In der Schweiz kamen diese Patente im Jahr 2018 auf einen Anteil von insgesamt 0,9 Prozent. Anders in Kalifornien: In der Region San Francisco ist der Anteil an KI-Patenten mit 2,7 Prozent dreimal so hoch wie in der Schweiz. Auch in absoluten Zahlen liegt die Schweiz mit 58 aktiven KI-Patenten deutlich hinter San Francisco (417), Boston (247) und Tokio (92).

Zugang zu Patientendaten

Grundsätzlich sind die Voraussetzungen für die digitale Transformation in der Schweiz gut. Im diesjährigen World Digital Competitiveness Ranking (WDCR) der Lausanner Wirtschaftshochschule IMD, welches die Fähigkeit von Ländern zur Adaption von digitalen Technologien misst, liegt die Schweiz auf dem sechsten Rang. Zu den Stärken der Schweiz gehören der gute allgemeine Bildungsstand, die Attraktivität der Schweiz für ausländische Fachkräfte sowie der Wissenstransfer zwischen Hochschulen und Unternehmen.

Für die Digitalisierung der Pharmaforschung sind jedoch zusätzliche Kriterien entscheidend. Wichtig ist insbesondere ein Ökosystem, in dem Gesundheitsdaten von Patienten, Ärzten und Krankenhäusern einheitlich erhoben, geteilt und in der Forschung genutzt werden können. Dies birgt ein grosses Potenzial für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung, insbesondere auch, weil dank Smartphones und Wearables wie Smartwatches heute umfangreiche medizinische Daten zur Verfügung stehen. Die Nutzung dieser Daten kann zu präziseren Diagnosen und einer zielgerichteteren Forschung und Produktion in der Pharmaindustrie beitragen. Im Idealfall können zukünftig Patientendaten mit klinischen Studien verknüpft werden, um etwa die Auswirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten besser zu überwachen.

Bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems und bei der Nutzung von Gesundheitsdaten schneidet die Schweiz in internationalen Vergleichen allerdings schlecht ab. So landete die Schweiz in der Studie «#SmartHealthSystems» der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2018 auf dem drittletzten Rang von insgesamt 17 Ländern. Auf dem Podest finden sich Estland, Kanada und Dänemark, wo die Digitalisierung deutlich weiter fortgeschritten ist als in der Schweiz.

In Dänemark werden Gesundheitsdaten von Patienten beispielsweise in einem E-Health-Portal erfasst. Diese Daten können grundsätzlich auch von Universitäten und Pharmaunternehmen für Forschungszwecke genutzt werden, sofern sie nicht gegen die dänischen Datenschutzbestimmungen verstossen. Aus Transparenzgründen können die Bürger einsehen, wer auf ihre Daten zugegriffen hat.

Anders in der Schweiz[2]: Das elektronische Patientendossier wurde hier deutlich später aufgegleist als in anderen europäischen Ländern. Zudem besteht noch grosser Verbesserungsbedarf, was die Nutzung des Patientendossiers betrifft. Erstens muss es klare Spielregeln geben, unter welchen Bedingungen Patientendaten in der Forschung genutzt werden dürfen. Eine solche explizite gesetzliche Grundlage gibt es nicht, wenngleich das Humanforschungsgesetz eine Nutzung anonymisierter Daten grundsätzlich erlaubt.

Zweitens muss eine Dateninfrastruktur aufgebaut werden, die einen breiten Zugang zu diesen Daten ermöglicht. Das Hauptproblem liegt derzeit nämlich darin, dass die Daten gegenwärtig nicht in der geeigneten Struktur vorliegen, um in der Forschung zum Einsatz kommen zu können. Nötig wäre deshalb eine zentrale Dateninfrastruktur, eine Art Datenökosystem, wo Daten einheitlich erhoben und von allen Forschungsakteuren genutzt werden können.

In Digitalisierung investieren

Angesichts der steigenden Bedeutung von digitalen Technologien und des Zugangs zu Gesundheitsdaten in der pharmazeutischen Forschung scheint klar: Die Schweizer Pharmaunternehmen werden in die Digitalisierung investieren – die Frage ist nur, an welchen Standorten sie das tun werden.

Damit der Standort Schweiz für diese Unternehmen auch in Zukunft ein wichtiges Standbein des globalen Forschungsnetzwerks bleibt, ist es aus unserer Sicht zentral, dass sich die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung in der Pharmabranche verbessern. Gefragt sind ein wettbewerbsfähiges Innovationsumfeld sowie die Schaffung einer geeigneten Dateninfrastruktur, welche auf eine optimale Nutzung digitaler Technologien und Gesundheitsdaten innerhalb der Forschung und Entwicklung ausgerichtet ist.

  1. BAK Economics (2021). []
  2. Bertelsmann-Stiftung (2018). []

Literaturverzeichnis

 

 


Bibliographie

 

 

Zitiervorschlag: Michael Grass, Klaus Jank, Düzgün Dilsiz (2021). Pharmaforschung: Nachholbedarf bei der Digitalisierung in der Schweiz. Die Volkswirtschaft, 29. November.