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Taugt das Sozialversicherungsrecht für Plattformen?

Die Abgrenzung zwischen Selbstständig- und Unselbstständigerwerbstätigen auf Plattformen ist nicht immer eindeutig. Braucht es eine Anpassung des Sozialversicherungsrechts?
Sind Uber-Fahrer selbstständigerwerbend? (Bild: Keystone)

Das Sozialversicherungsrecht in der Schweiz unterscheidet zwischen Selbstständigerwerbstätigen und Unselbstständigerwerbstätigen.[1] Von diesem rechtlichen Status hängt beispielsweise ab, welchen Schutz jemand bei Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit geniesst. Durch die Versicherungsobligatorien für Unfall und die berufliche Vorsorge und die Absicherung in der Arbeitslosenversicherung (ALV) sind Arbeitnehmende grundsätzlich besser geschützt als Selbstständigerwerbstätige. Arbeitnehmende teilen sich die Beiträge für die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die Invalidenversicherung (IV), die Arbeitslosenversicherung und die Erwerbsersatzordnung (EO) je hälftig mit ihren Arbeitgebern. Selbstständigerwerbstätige entrichten die entsprechenden Beiträge allein. Mit dem Aufkommen von digitalen Plattformen häufen sich Konstellationen, in denen es schwierig ist, klar zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit zu trennen.

Im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) wurden 2019 sechs Fallstudien zu spezifischen «Arbeitsverhältnissen» von innovativen Geschäftsmodellen der Plattform-Ökonomie durchgeführt.[2] Konkret handelt es sich um die Crowd-work-Plattformen Mila und Atizo, den Fahrtenvermittler Uber sowie die Dienstleistungsvermittler Helpling, Batmaid und Gigme.[3] In der Studie wurde analysiert, welche Anstellungsmodelle diese Plattformen anbieten, welche Rahmenbedingungen im Sozialversicherungsrecht die Verbreitung innovativer Geschäftsmodelle hemmen und welche Grundvoraussetzungen für die Entwicklung der Geschäftsmodelle am förderlichsten wären.

Vier Geschäftsmodelle

Die Geschäftsmodelle und die Arbeitsverhältnisse, welche die Plattformen daraus ableiteten, standen im Mittelpunkt der Analyse. Ökonomisch betrachtet, kann man bei jeder Plattform zwischen Leistungserbringern, Kundinnen und Kunden sowie den Plattformbetreibenden unterscheiden (siehe Abbildung). In der Regel sind alle drei Akteure zudem über eine Website oder eine App miteinander verbunden. In der Studie wurden die analysierten Plattformen in vier Geschäftsmodelle eingeteilt.

Funktionsweisen von Plattformen

Im ersten Geschäftsmodell vermittelt die Plattform zwischen Leistungserbringern und Kunden, die Leistungserbringer agieren selbstständig. Bei diesem Modell entsteht in der Regel ein Dienstleistungsvertrag zwischen Leistungserbringerin und Kundin. Nur selten resultiert daraus ein Arbeitsvertrag. Nebst Uber verfolgen auch das Technikernetzwerk Mila sowie die Ideenschmiede Atizo dieses Geschäftsmodell.[4]

Beim zweiten Geschäftsmodell sind die Leistungserbringer von den Kunden angestellt. Die Plattform vermittelt zwischen den beiden und unterstützt die Kunden bei der Abwicklung der Arbeitgeberpflichten. Batmaid folgte diesem Modell bis Ende 2020.

Das dritte Modell unterscheidet sich vom zweiten insofern, als die Leistungserbringer von der Plattform selbst angestellt sind. Die Plattform tritt hier gleichzeitig in einer Vermittlerrolle und als Arbeitgeberin auf. Das heisst, sie nimmt Aufträge oder Werkverträge an, die durch Angestellte der Plattform erbracht werden. In der Untersuchung wendet der Reinigungsservice Helpling dieses Modell an.

Beim vierten Geschäftsmodell ist die Plattform nebst Vermittlerin einer Leistung auch Personalverleiherin. Wie beim dritten Modell sind die Leistungserbringer von der Plattform angestellt. Rechtlich gesehen, gilt die Plattform als Personalverleiherin, da sie Arbeitnehmende einem Einsatzbetrieb überlässt und die Grundpflichten des Arbeitsverhältnisses gegenüber der Verleiherin bestehen bleiben.[5] Personalverleihbetriebe benötigen eine Bewilligung des Bundes. Sie unterstehen dem allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für die Personalverleihbranche.[6]

Wer ist selbstständig?

Im Einzelfall kann es schwierig sein, den sozialversicherungsrechtlichen Status (selbstständig oder angestellt) von Plattformbeschäftigten festzulegen. Primär ist zu unterscheiden zwischen Geschäftsmodellen, bei denen die Plattformbetreiber erhebliche Vorgaben zur Leistungserbringung machen, und solchen, wo dies nicht der Fall ist: Je rigider die Vorgaben sind, desto eher liegt eine unselbstständige Erwerbstätigkeit vor. Eine solche ist dann anzunehmen, wenn die Plattform mit den Leistungserbringern Arbeitsverträge abschliesst. Eine selbstständige Leistungserbringung ist dann gegeben, wenn der Leistungserbringer sowohl der Plattform wie auch den Kunden gegenüber selbstständig handelt.

Die Analyse der Plattformtätigkeiten zeigt weiter, dass keine der untersuchten Plattformen eine Mindestauslastung garantiert. Hinsichtlich Auslastung und Regelmässigkeit bedeutet dies, dass die grosse Mehrzahl ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen kann. Somit verbleibt bei allen Geschäftsmodellen aber auch das Auslastungsrisiko bei den leistungserbringenden Personen, unabhängig davon, ob sie vom Status her als Angestellte oder Selbstständige gelten.

Plattformen, die niedrig qualifizierte Tätigkeiten vermitteln, wie Uber (mit Geschäftsmodell 1), Batmaid (Geschäftsmodell 2) und Helpling (Geschäftsmodell 3), machen zudem ihren Dienstleistern vergleichsweise häufig Vorgaben zu Preissetzung, Leistungserbringung und Qualität. Im Gegenzug wird das unternehmerische Risiko von Investitionen meist durch die Plattform getragen.

Wunsch nach Vereinfachung

Die Gespräche mit den Plattformbetreibern haben aufgezeigt, dass sich diese einerseits Vereinfachungen im administrativen Bereich und andererseits eine – nur teilweise genauer definierte – flexiblere Handhabung des Sozialversicherungsrechts wünschen. Aufgrund dieser Rückmeldungen, der Diskussion ausgewählter ausländischer Lösungen und der im Rahmen der Studie gemachten Überlegungen scheinen deshalb mehrere Punkte prüfenswert.

Bezüglich einer administrativen Vereinfachung wäre etwa zu prüfen, ob das vereinfachte Abrechnungsverfahren, das aktuell Privatpersonen mit Löhnen unterhalb einer gewissen Schwelle zwecks Vermeidung von Schwarzarbeit vorbehalten ist, auf einen erweiterten Kreis von Akteuren angewendet werden soll. Zudem könnte eine Plattform auch die sozialversicherungsrechtliche Abrechnung von Entgelten für selbstständige Tätigkeiten übernehmen, ohne befürchten zu müssen, deshalb als Arbeitgeber qualifiziert zu werden.

Schutz als Ziel

Mit Blick auf die Sicherung des Schutzniveaus für selbstständige Plattformleistungserbringende wäre die Möglichkeit oder Verpflichtung der Plattformbetreiber zu prüfen, selbstständigen Leistungserbringern im Bereich des Erwerbsausfalls, bei Unfall, bei Krankheit und bezüglich der beruflichen Vorsorge einen Versicherungsschutz zu gewähren – ohne dass damit unbedingt alle Arbeitgeberpflichten übertragen werden müssten.

Aus Sicht der Autoren erscheint es mit Blick auf mögliche sozialrechtliche Reformen prüfenswert, den Status des Entgeltes aus Plattformtätigkeiten in der AHV-Verordnung als Legaldefinition generell festzuhalten oder für bestimmte abhängige Plattformtätigkeiten einzuführen.

  1. Dieser Artikel erscheint zeitgleich online in «Die Volkswirtschaft» und in der «Sozialen Sicherheit». []
  2. Ecoplan und Mösch (2021). Die Resultate dieser Studie fanden Eingang in den Bundesratsbericht (Bundesrat 2021). []
  3. Die Angaben beziehen sich auf Juli 2019. In der Zwischenzeit haben die Geschäftsmodelle möglicherweise geändert. Gigme gibt es beispielsweise nicht mehr. []
  4. Im Fall von Uber laufen momentan verschiedene Gerichtsverfahren, um festzustellen, ob die Fakten tatsächlich mit diesem Geschäftsmodell übereinstimmen. []
  5. Art. 12ff. Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG). []
  6. Oder einem allgemeinverbindlichen GAV im Tätigkeitsbereich der Einsatzbetriebe (Art. 20 AVG). []

Bibliographie

Zitiervorschlag: Michael Marti, Peter Mösch Payot (2021). Taugt das Sozialversicherungsrecht für Plattformen. Die Volkswirtschaft, 29. November.