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Massgeschneiderte Regulierung für Unternehmen?

Unternehmen beklagen sich vielfach über unnötige Regulierungen. Abhilfe schaffen können differenzierte Lösungen – allerdings ist Vorsicht geboten.
Differenzierte Gesetze regeln beispielsweise den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. (Bild: Keystone)

Regulierungskosten für Unternehmen und die Verwaltung beeinflussen die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft und sind ein wichtiger Standortfaktor. Die Regulierungseffizienz zu verbessern, ist deshalb aus volkswirtschaftlicher Sicht ein zentrales Anliegen. Dabei ist jedoch immer auch den politisch festgelegten Zielen einer Regulierung Rechnung zu tragen.

Ein derzeit viel diskutierter Ansatz ist die «differenzierte Regulierung». Mit anderen Worten: Eine adressatengerechtere Ausgestaltung soll die Effizienz erhöhen. So sollen bestimmte Unternehmen von einzelnen Regulierungen ausgenommen werden oder von Vereinfachungen profitieren. Mögliche Differenzierungskriterien sind zum Beispiel die Unternehmensgrösse (Umsatz, Anzahl Mitarbeitende etc.), das Tätigkeitsgebiet oder die Art der Produkte und Dienstleistungen. Ein Spezialfall der differenzierten Regulierung stellen sogenannte Opting-out-Klauseln dar. Diese ermöglichen es den Unternehmen, unter bestimmten Voraussetzungen die individuell bevorzugte Variante aus einer differenziert ausgestalteten Regulierung auszuwählen.

Ein prominentes Beispiel für eine differenzierte Regulierung besteht bei der Revisionspflicht. Kleine und mittlere Unternehmen sind in aller Regel von der sogenannten ordentlichen Revision befreit und können stattdessen eine kostengünstigere eingeschränkte Prüfung durchführen lassen. Aber auch in anderen Bereichen bestehen bereits heute Differenzierungen. So sind sehr kleine Unternehmen von der Pflicht zur Mehrwertsteuerabrechnung befreit, und mittelgrossen Betrieben steht die Möglichkeit offen, die Mehrwertsteuer mithilfe der «Saldosteuermethode» vereinfacht abzurechnen.

Die differenzierte Regulierung als Patentrezept zur Reduktion der administrativen Belastung für Unternehmen und Verwaltung zu bezeichnen, wäre allerdings vermessen – denn die unterschiedlichen Regelungen für einzelne Gruppen von Unternehmen machen die Regulierung insgesamt komplexer und dichter. Darüber hinaus können Differenzierungen zu einer Verzerrung des Wettbewerbs führen, was sowohl aus rechtlicher als auch aus ökonomischer Perspektive problematisch ist.

Systematische Beurteilung nötig


In Anbetracht der Schwierigkeit, rein intuitiv zu beurteilen, ob konkrete Differenzierungsmassnahme tatsächlich zweckmässig sind, hat das Forschungs- und Beratungsunternehmen Econcept die Vor- und Nachteile der differenzierten Regulierung umfassend untersucht.[1] Für die Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) arbeitete Econcept mit dem Luzerner Wirtschaftsrechtsprofessor Nicolas Diebold und dem Rechtsanwalt Andreas Wildi von der Kanzlei Walder Wyss zusammen.

Kernstück der Untersuchung ist ein Raster, in welchem Beurteilungskriterien für differenzierte Regulierungen aufgelistet sind (siehe Kasten). Anhand dieses Frameworks wurden verschiedene zur Diskussion gestellte Differenzierungsvorschläge  – wie beispielsweise der Verzicht auf Arbeitszeitdokumentation für Kleinstunternehmen oder die Selbstdeklaration bei der Arbeitssicherheit – untersucht.[2] Die Studie analysiert die Anwendungsbeispiele gemäss den Kriterien Rechtmässigkeit und Wirtschaftlichkeit; hinzu kommen weitere wichtige Überlegungen, wie mögliche Alternativen und die notwendige gesamtheitliche Betrachtung der volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen. Zusammen mit der ausführlichen Diskussion der Anwendungsbeispiele liefert das resultierende Beurteilungsframework aus Sicht der Autoren einen wichtigen Beitrag, um in Zukunft differenzierte Regulierung systematischer beurteilen zu können.

Rechtliche Vorgaben sind einzuhalten


Da differenzierte Regulierungen eine Ungleichbehandlung von Wirtschaftsakteuren bewirken, gilt es abzuschätzen, ob eine Differenzierung rechtmässig ist. Ist sie mit den Gleichbehandlungsgeboten der Bundesverfassung und des Wirtschaftsvölkerrechts vereinbar? Um diese Frage zu klären, sind verfassungsrechtliche Grundsätze, wie die Rechtsgleichheit oder der Anspruch auf Gleichbehandlung direkter Konkurrenten, sowie verschiedenste staatsvertraglich festgelegte Diskriminierungsverbote und Marktzugangsverpflichtungen zu beachten. Die in der Studie näher beschriebenen Kriterien ermöglichen eine erste Beurteilung, eine vertiefte Prüfung muss jedoch immer im Einzelfall erfolgen.

Mit Blick auf die Rechtmässigkeit lassen sich folgende Differenzierungstypen unterscheiden:

  • Differenzierung aufgrund tatsächlicher Unterschiede in Bezug auf ein bestimmtes Risiko: Falls von einer bestimmten Unternehmensgruppe ein geringeres Risiko (zum Beispiel in Bezug auf den Gesundheitsschutz) ausgeht, kann es angezeigt sein, diese Gruppe zu entlasten. Ein Beispiel sind grosse Unterschiede bei der produzierten Menge.
  • Verhältnismässigkeitsbasierte Differenzierung: Verursacht eine Regulierung für eine Gruppe von Unternehmen besonders hohe Fixkosten, so kann eine Differenzierung gerechtfertigt sein. Beispielsweise sind in diesem Fall vereinfachte Regelungen für Kleinstbetriebe möglich.
  • Differenzierung hinsichtlich der Modalitäten zur Pflichterfüllung: Eine Unternehmensgruppe wird zwar nicht von der Regulierung befreit, dafür werden grosszügigere Modalitäten bei der Pflichterfüllung zugelassen. So können beispielsweise je nach Unternehmenstyp unterschiedliche Anforderungen bezüglich der Dokumentation gelten.


Generell lässt sich sagen, dass der letzte Aspekt – unterschiedliche Modalitäten zur Pflichterfüllung – aus rechtlicher Sicht am wenigsten problematisch ist. Demgegenüber besteht sowohl bei der risikobasierten als auch bei der verhältnismässigkeitsbasierten Differenzierung mehr Interpretationsspielraum und damit auch mehr Unsicherheit. Denn hier ist eine Gewichtung unterschiedlicher Ziele und öffentlicher Interessen erforderlich.

Lohnt sich eine Differenzierung wirtschaftlich?


Beim Element der Wirtschaftlichkeit wird die Frage untersucht, ob mit einer differenzierten Regulierung tatsächlich die Regulierungskosten gesenkt werden können. Sowohl für Unternehmen als auch für die öffentliche Hand lassen sich bei einer Regulierung direkte Kosten (zum Beispiel Personal- und Sachkosten) und indirekte Kosten wie Zeitkosten unterscheiden. Darüber hinaus können auf einer volkswirtschaftlichen Ebene negative Effekte wie Wettbewerbsverzerrungen und Fehlanreize entstehen, die als Regulierungskosten interpretiert werden können. Nebst den wiederkehrenden Kosten müssen auch einmalige Effekte wie der Anpassungsaufwand berücksichtigt werden.

Mit Blick auf das Ziel einer praxistauglichen Beurteilung schlagen die Autoren vor, die Wirtschaftlichkeit im engeren Sinn nur anhand der direkten Kosten zu quantifizieren und die indirekten Kosten sowie die volkswirtschaftlichen Effekte erst in den abschliessenden Kosten-Nutzen-Abwägungen qualitativ in die Beurteilung einfliessen zu lassen.

Gibt es Alternativen?


Zusätzlich zu den eng definierten Kriterien Rechtmässigkeit und Wirtschaftlichkeit müssen auch der Nutzen einer Regulierung und nicht quantitativ erfasste Kostenelemente wie indirekte Kosten, Wettbewerbsverzerrungen und Fehlanreize berücksichtigt werden.

Für eine gesamthafte Beurteilung ist es wichtig, dass Alternativen zur differenzierten Regulierung geprüft werden: beispielsweise, ob eine generelle Vereinfachung der Regulierung für alle Betroffenen möglich ist oder ob geeignetere Optionen zur administrativen Entlastung bestehen.

Instrument gezielt einsetzen


Bei einer unüberlegten Anwendung können Differenzierungen die Komplexität des Regulierungsrahmens zusätzlich erhöhen, Wettbewerbsverzerrungen verursachen oder die politisch festgelegten Ziele der Regulierung untergraben. Oftmals gibt es aus volkswirtschaftlicher Sicht bessere Alternativen zur Erhöhung der Regulierungseffizienz wie etwa eine Vereinfachung für alle Unternehmen. Gut ausgestaltete Differenzierungen können hingegen ein wichtiges Element im Baukasten der administrativen Entlastung sein, wie die Studienresultate und die bisherigen Erfahrungen in der Schweiz unterstreichen.

Eine systematische Prüfung von Differenzierungsmöglichkeiten zu einem frühen Zeitpunkt im Gesetzgebungsprozess ist essenziell für den Erfolg des Instruments. Entsprechend scheint es sich anzubieten, das Beurteilungsraster in die Regulierungsfolgenabschätzungen einzubetten. Da sich für den Regulator meist nur schwer abschätzen lässt, ob eine Differenzierung bei einem Unternehmen tatsächlich zu einer Entlastung führt, sollte die Differenzierung grundsätzlich mit Opting-out-Klauseln für die Unternehmen verknüpft werden.

Eine Alternative zu Differenzierungen bieten generelle Vereinfachungen im Zuge der Digitalisierung. So können Schnittstellen beispielsweise die Übermittlung von Daten automatisieren. Wenn durch solche Ansätze die Pflichterfüllung für alle vereinfacht wird, erübrigen sich Differenzierungen womöglich ganz. Die Entwicklung von praxistauglichen technischen Lösungen erfordert jedoch eine enge Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und der Verwaltung.

Nicht selten tangieren Differenzierungen für bestimmte Unternehmen den Hauptzweck einer Rechtsnorm – also beispielsweise den Gesundheitsschutz oder den Umweltschutz. Der damit verbundene Nutzenverlust sollte in solchen Fällen der administrativen Entlastung gegenübergestellt werden. Die Diskussion über das «richtige» Schutzniveau und damit die Gewichtung zwischen Kosten und Schutzniveau muss aber letztlich auf der politischen Ebene geführt werden.

Differenzierung oder internationale Harmonisierung?


Eine besondere Bedeutung erlangen Differenzierungen im Kontext der internationalen Regulierung. Hier bestehen zwei unterschiedliche Ansätze zur Reduktion der administrativen Belastung für die Unternehmen in der Schweiz: Entweder werden die Regulierungen mit dem internationalen Recht harmonisiert, oder es wird differenziert. Aufgrund der Studienresultate ist a priori nicht klar, welcher der beiden Wege für die Unternehmen der bessere ist. Vermutlich lohnen sich Differenzierungen tendenziell dann, wenn sich die Struktur der regulierten Branche in der Schweiz stark vom Ausland unterscheidet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Regulatorische Differenzierungen können einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Regulierungseffizienz leisten, wenn sie gezielt und richtig eingesetzt werden. Der unbedarfte Einsatz des Instrumentes führt hingegen zu mehr Regulierungsdichte und weniger Effizienz – Vorsicht ist also geboten.

  1. Econcept (2018), Differenzierte Regulierung und Opting-out, Studie im Auftrag des Seco. []
  2. Weitere Anwendungsbeispiele waren der Verzicht auf Meldepflicht bei Kleinmengen von Chemikalien, die Befreiung von Kleinstverwendern von der VOC-Lenkungsabgabe, die differenzierte Fremdkontrolle für Bauprodukte sowie die abweichende Kennzeichnung von Produkten für den Binnenmarkt. []

Zitiervorschlag: Stefan von Grünigen, Roger Küttel, (2018). Massgeschneiderte Regulierung für Unternehmen. Die Volkswirtschaft, 25. Juni.

Beurteilungskriterien für differenzierte Regulierungen
Kriterien zur Rechtmässigkeit

  • Rechtsgrundlage: Es besteht eine ausreichende Rechtsgrundlage.
  • Rechtfertigung: Die Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt. Dies kann entweder durch tatsächliche Unterschiede bei den Adressaten, durch ein öffentliches Interesse der Differenzierung oder die Verhältnismässigkeitsprüfung der Regulierung selber begründet sein.
  • Wettbewerbsneutralität: Der Grundsatz der Wettbewerbsneutralität ist eingehalten.
  • Gleichbehandlung: Inländische und ausländische Wirtschaftsakteure werden gleichbehandelt.
  • Marktzugang: Der Marktzugang ist gemäss den wirtschaftsvölkerrechtlichen Staatsverträgen für alle Unternehmen gewährleistet, und die völkerrechtlichen Verträge sind eingehalten.

Kriterien zur Wirtschaftlichkeit

  • Reduktion der wiederkehrenden Regulierungskosten: Die wiederkehrenden Kosten der ordentlichen Regulierung für Unternehmen und Verwaltung sind höher als die wiederkehrenden Kosten der differenzierten Regulierung für Unternehmen und Verwaltung.
  • Reduktion der Gesamtkosten: Die Reduktion der wiederkehrenden Regulierungskosten überwiegt den einmaligen Anpassungsaufwand (Fall 1, Anpassung bestehende Regulierung) oder die Differenz der Initialaufwände von differenzierter und ordentlicher Regulierung (Fall 2, neuer Regulierung).

Weitere Kriterien

  • Alternativen: Lässt sich die Regulierung für alle Betroffenen mit alternativen Regelungen vereinfachen oder eliminieren, sind diese Regelungen einer differenzierten Regulierung vorzuziehen.
  • Volkswirtschaftliche Kosten und Nutzen: Volkswirtschaftliche Kosten und Nutzen können nicht immer mit vertretbarem Aufwand quantifiziert werden. Relevant sind sie dennoch, und sie sollten deshalb auf einer qualitativen Ebene berücksichtigt werden.
  • Verständlichkeit: Differenzierte Regulierung ist so auszugestalten, dass die Unternehmen diese verstehen.
  • Fehlanreize: Differenzierungen können zu Schwelleneffekten und diese zu Fehlanreizen führen.